Der Philosoph der Wahrheit und der Liebe

„Die Eheleute sollten sich einander auf eine so natürliche Weise beschenken, dass es fast unbemerkbar bleibt. Das ist das Geheimnis einer guten Ehe“, meinte Prof. Stanisław Grygiel, ein bedeutender polnischer Philosoph und Freund des heiligen Johannes Paul II, der mehrere Jahrzehnte lang das Geheimnis des Menschen erforscht hat.

Stanisław Grygiel wurde 1934 in Zembrzyce in Südpolen geboren. Großen Einfluss auf sein späteres Leben und sein Philosophieren hatten nicht nur seine Eltern, sondern auch sein Großvater, der einen Bauernhof betrieb. Von ihm lernte der kleine Staś, dass alles im Leben ein Geschenk ist. Es ist die Aufgabe des Menschen, seine Pflichten gewissenhaft zu erfüllen, aber das Wachstum hängt – wie die Pflanzen auf dem Feld – nicht von ihm ab, sondern von Gott, der Regen und Sonnenschein schenkt. „Die Arbeit ist unsere Aufgabe, aber sie trägt Früchte, wenn Gott sie segnet“, meinte der Professor.

Nach dem Abitur begann Stanisław sein Philosophiestudium an der Jesuitenuniversität in Krakau und bildete sich gleichzeitig in der von St. Ignatius von Loyola gegründeten Gemeinschaft fort. Nach seinem Abschluss in Philosophie verließ er die Jesuiten und begann ein Studium der polnischen Philologie an der Jagiellonen-Universität.

In dieser schwierigen Zeit der Suche nach dem eigenen Lebensweg begegnete S. Grygiel Pater Jan Pietraszko – einem außerordentlichen Priester der Erzdiözese Krakau, dem Pfarrer der Stiftskirche St. Anna, einem angesehenen Prediger, später Weihbischof und nun Kandidat für die Heiligsprechung. Pater Pietraszko hatte einen großen Einfluss auf das Leben von Stanisław und seiner Familie. Als sehr tiefgründiger, bescheidener Priester und Bischof, der sich leidenschaftlich für das Wort Gottes einsetzte, prägte er den Glauben des Klerus und der Laien in Krakau. Professor Grygiel erinnerte sich: „Dank Bischof Jan habe ich verstanden, dass man das Wort auch ‘mit dem inneren Ohr‘ hören muss, wenn man die Heilige Schrift liest. Dieses Wort muss man auch in der Eucharistie andächtig „mit dem inneren Auge‘ sehen. Erst wenn man es im Evangelium hört und in der Eucharistie andächtig sieht, verwandelt es uns immer mehr zu Ihm hin. Das bedeutet, sein Leben zu ändern, also sich zu Gott zu bekehren“.

Karol Wojtyła

Im Jahre 1958, noch während seines Studiums der Polonistik, erwog Stanisław Grygiel, zur Philosophie zurückzuwechseln. Zu diesem Zweck knüpfte er Kontakte zu dem frisch geweihten Bischof von Krakau, Karol Wojtyła, der ihm vorschlug, eine Doktorarbeit zu schreiben und an dem von ihm geleiteten Doktorandenseminar an der Katholischen Universität von Lublin teilzunehmen. Damit begann für Stanislaw nicht nur ein großes intellektuelles Abenteuer, sondern auch eine herzliche Beziehung zum künftigen Papst, die bis zum Ende des Lebens des Heiligen Vaters andauerte.

Es gab nicht viele Doktoranden von Karol Wojtyła, denn nicht jeder kam mit dem selbständigen Forschungsstil, den der Bischof von Krakau bevorzugte, zurecht. Stanisław Grygiel fühlte sich in einer solchen Form des wissenschaftlichen Arbeitens sehr wohl, und deshalb wandte er Jahre später, als er selbst Vorlesungen hielt, die Methode seines Doktorvaters an. Er fasste sie wie folgt zusammen: „Pater Professor Karol Wojtyla hat keine akademische Philosophie betrieben. Seine Menschenerfahrung hatte eine Kraft, die es ihm nicht erlaubte, sich in Büchern zu verschließen. Die Grundlage seines Denkens waren daher nicht Bücher, sondern das Verstehen der vertrauensvollen Hingabe des Menschen an die göttlich-menschliche Wahrheit.[…]“

Er ließ seinen Doktoranden die Freiheit, die Wahrheit zu suchen und nach ihr zu fragen. Karol Wojtyla vertraute denen, die aufrichtig nach Antworten auf grundlegende Fragen suchten, auf die es keine endgültigen Antworten gibt. „Sucht, und die Wahrheit wird euch finden“. – sage ich dem Studenten. Den Geist des Schülers mit dem Durst nach der Wahrheit zu entflammen – das ist die oberste Aufgabe des Lehrers.“

Karol Wojtyła, der S. Grygiel auf dem Weg zu Seminaren in Lublin in seinem Auto mitnahm oder ihn zu langen Gesprächen in den Wäldern bei Krakau oder auf Bergpfaden einlud, prägte ihn intellektuell und spirituell. „Mit ihm zusammen zu sein“, erinnert sich der Doktorand, „bedeutete, zusammen zur Wahrheit zu gehören, nach der er fragte und die er suchte. Diese Zugehörigkeit zur Wahrheit, die das Prinzip der geistigen Unabhängigkeit der menschlichen Person ist, lehrte er alle, auch mich. Die Wahrheit ist eine Gabe Gottes, die vom Menschen mit reinem Herzen angenommen wird“.

Beiden gemeinsam war sowohl das Denken im Lichte des Glaubens als auch die Neigung zur kontemplativen Betrachtung der Wirklichkeit. Der zukünftige Papst, so der Philosoph, „war von der Schönheit all dessen, was ihm begegnete, begeistert. Er war vor allem von der Schönheit des Menschen begeistert. Sie erzählte ihm von ihrer Quelle, die die Liebe ist […]. Bei Karol Wojtyła bildete der Glaube an den Menschen eine Ganzheit mit dem Glauben an Gott. Sein Bedürfnis, den Menschen kennenzulernen, lebte von dem Bedürfnis, Gott kennenzulernen. Für ihn führte der Weg zu Gott über den Menschen, und Gott offenbarte sich ihm im Menschen, wodurch der Mensch für ihn verständlich wurde. Auf diesem Weg schuf er seine philosophische Anthropologie. Um ein anderes Bild zu verwenden, würde ich sagen, dass derjenige, der einen Fluss betrachtet, seinen Blick auf die Quelle richtet, aus der dieser Fluss entspringt“.

„Gott lenkt alles!“

Stanisław Grygiels Verbindungen zur kirchlichen Gemeinschaft konnten den Kommunisten nicht gefallen. Der junge Philosoph hatte daher Schwierigkeiten, eine Anstellung zu finden. Da half ihm der weise Rat seiner Mutter: „Bleib bei uns zu Hause, schreibe, was du zu schreiben hast, und überlasse den Rest Gott. […] Gott lenkt alles!“. Er beendete seine Doktorarbeit, und bald darauf bot ihm Frau Hanna Malewska, die Chefredakteurin der Monatszeitschrift „Znak” (dt. Zeichen), eine Stelle in der Redaktion an. S. Grygiel arbeitete dort die nächsten 18 Jahre und freundete sich mit Pater Józef Tischner und Władysław Stróżewski an. Auf Empfehlung von Bischof Wojtyła hielt er auch Vorlesungen in Krakau über Philosophie, und in den 1960er und 1970er Jahren nahm er an einigen internationalen Konferenzen und Treffen des internationalen Teams der Zeitschrift „Communio“ teil und erhielt ein Stipendium in Louvain. Professor Grygiel lernte viele, für die Kirche bedeutende, Persönlichkeiten kennen, darunter Kardinal Joseph Ratzinger, Kardinal Henry de Lubac und Kardinal Hans Urs von Balthasar.

Bei einem geheimen Treffen der italienischen Kirchenkreise, die Kontakte zu den Katholiken in Polen suchten, sah Stanisław zum ersten Mal seine zukünftige Frau Ludmila- eine Absolventin der Geschichtswissenschaft an der Jagiellonen-Universität, Essayistin, Kennerin der heiligen Katharina von Siena und der heiligen Faustina, später Vizepostulantin des Seligsprechungsverfahrens von Weihbischof Jan Pietraszka. S. Grygiel verliebte sich auf den ersten Blick in sie. Es war der 6. Januar 1968, das Dreikönigsfest. Nach mehr als 50 Ehejahren sprach der Professor über dieses Datum, als er von den Erfahrungen ihres gemeinsamen Lebens berichtete: „Unsere Liebe wird immer wieder neu geboren. Ich lerne sie ständig neu kennen. Es ist, als ob ich meine Frau immer wieder neu zu lieben beginne. Sie offenbart mir immer neue, schönere und tiefere Schichten ihrer Person, sie offenbart mir, wer ich bin. Manchmal denke ich, ich kenne sie nicht. Dann verstehe ich mich selbst nicht mehr. Wir haben uns am Dreikönigstag getroffen. Für mich war es tatsächlich eine Epiphanie. Seitdem begegnen wir uns immer wieder. Um mich herum ist es ständig hell. Wenn wir uns ansehen, erfahren wir, wer wir sein sollen und welchen Weg wir gehen sollen. Die Epiphanie dauert an.“

Von Krakau nach Rom

Im Jahr 1978 wurde Karol Wojtyla zum Papst gewählt. Der Professor, seine Frau und seine beiden Kinder (Monika und Jakub) erhielten bald darauf eine Einladung des Heiligen Vaters, nach Rom zu ziehen und sich in den Dienst der Weltkirche zu stellen. Nach reiflicher Überlegung verließen die Grygiels Polen, die den Vorschlag des Papstes als Berufung ansahen. In Rom baute der Professor zunächst das Polnische Institut für Christliche Kultur auf und das bis heute erscheinende Magazin „Il Nuovo Aeropago“. Ab 1981 lehrte er am vom Heiligen Vater gegründeten „Päpstlichen Institut Johannes Paul II. für Ehe- und Familienstudien“ und leitete den Karol-Wojtyła-Lehrstuhl.

In seinen Vorlesungen über philosophische Anthropologie konzentrierte sich der Professor auf das Thema Gabe, das seiner Meinung nach die Dynamik der Liebe am besten widerspiegelt. In seinem Buch mit dem Titel: „Od początku“ – na zawsze. Miłujmy prawdę małżeństwa“ (dt. „Von Anfang an – für immer. Lasst uns die Wahrheit über die Ehe schätzen“, nicht übersetzt. Anm. d. Übers.), schrieb er: „Das Aufeinandertreffen von Personen und die zwischen ihnen entstehende neue Wirklichkeit der Liebe ist eine Gabe. Durch die Gabe spricht Gott ‚von Anfang an‘ zu den Personen und wiederum sprechen sie durch die Gabe zueinander. Die Gabe offenbart den Menschen als Person, offenbart alles, was ihn ausmacht. Während die Person reift, um sie selbst zu werden, das heißt, um auch selbst eine Gabe zu werden, offenbart die Gabe der Person auf eine adäquate Weise die Wahrheit über sich selbst. Die Person offenbart sich durch die Gabe des Körpers, die Gabe des Denkens und die Gabe des Handelns. Auf diese Weise wird sie für die anderen immer präsenter, wodurch sich die Wahrheit in ihr immer deutlicher offenbart […]. Jede Gabe ist schwierig, denn sie erfordert Liebe und Arbeit, ohne die man sie weder annehmen noch geben kann“. Das Vorbild der Selbsthingabe ist Christus, weshalb „die christlichen Eheleute ihre Ehe am eucharistischen Tisch lernen. Sie sollen sich einander schenken, wie er sich ihnen schenkt, und er schenkt sich ihnen unwiderruflich. Die eheliche Treue hat für immer etwas von der eucharistischen Treue Christi zum Menschen an sich. Ohne die Bindung der Eheleute an die Eucharistie verwelkt das sie verbindende Sakrament der Ehe“.

Die Studenten liebten den Professor, weil seine Vorlesungen tiefe Weisheit, poetische Reflexion und große Güte des Dozenten vereinten. Junge Leute fragten ihn und seine Frau um Rat, wie man eine glückliche Beziehung aufbaut. Und obwohl S. Grygiel keine konkreten Ratschläge gab – er verwies meist auf das gemeinsame Beten und Zusammensein –, gab er, in einem Interview mit der Zeitung „Rzecz“ mit dem Titel „Leben bedeutet Philosophieren“, zu: „[Frau und Mann] sollten lernen, füreinander präsent zu sein, das bedeutet, sich gegenseitig in der Hoffnung anzuvertrauen, nicht enttäuscht zu werden. Gemeinsam sollten sie um die Gabe des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe und damit um die Gabe der Freiheit kämpfen. Es ist ein Kampf um die andere Person und ein Kampf um Gott. Man gewinnt die andere Person, indem man sich selbst besiegt, um ein epiphanisches Geschenk für sie zu werden. In diesem Kampf geht es nicht um messbare Erfolge, sondern um den endgültigen Sieg. […] Die Eheleute sollten sich einander auf eine so natürliche Weise beschenken, dass es fast unbemerkbar bleibt. Dies ist das Geheimnis einer guten Ehe.“

„Wollt auch ihr weggehen?“ (Joh 6,67)

Die Wahrheit über die Unauflöslichkeit der Ehe, die voreheliche Keuschheit oder die Ablehnung der In-vitro-Fertilisation und der Empfängnisverhütung – das sind Themen, die von der modernen Welt in Frage gestellt werden. Professor Grygiel war Zeuge mehrerer Gespräche, in denen der Papst mit solchen Vorwürfen konfrontiert wurde. Er erinnert sich unter anderem an einen Abend: „Ein junger Mann, der Sohn eines bekannten Dichters, kritisierte etwas herausfordernd die Lehre der Kirche über die eheliche Liebe, weil er sie für unrealistisch und unvereinbar mit dem Liebesverlangen junger Menschen hielt. Johannes Paul II. antwortete darauf: ‘Junger Mann, ich denke seit mehr als dreißig Jahren über diese großen Fragen nach und höre denen zu, die sie leben. Ich versichere Ihnen, dass es möglich ist und dass die Liebe, die die Kirche lehrt, schöner und besser ist als die, von der Sie sprechen‘. Auf meine Bemerkung hin, dass das Problem darin besteht, ob die jungen Menschen, deren Sehnsüchte sich von der Lehre der Kirche unterscheiden, den Unterschied zwischen dem Verlangen, jemanden zu besitzen, und dem Wunsch, mit ihm in guten wie in schlechten Zeiten, für immer zusammen zu sein, erkennen, murmelte der Papst: ‘Eben‘ und die Diskussion war beendet.” Eine Fortsetzung dieser Lehre sieht Professor Grygiel im Pontifikat von Benedikt XVI., dem Verfasser der Enzyklika „Deus caritas est“: „Wie Johannes Paul II. versuchte auch Benedikt XVI. nicht, die Menschen mit süßen Tröstungen und einem verdünnten Evangelium zu heilen. Beide verkündeten das ganze Evangelium und nicht nur Teile davon, die aus Angst, die Menschen könnten die Kirche verlassen, situativ ausgewählt wurden.“

Ein erfülltes Leben

Professor Grygiel predigte unermüdlich, und gegen alle Widerstände, die Wahrheit über die Schönheit der Ehe und Familie. Mit Schmerz im Herzen nahm er die Veränderungen zur Kenntnis, die in den letzten Jahren am Institut vorgenommen wurden und die sich von der ursprünglichen Absicht des Heiligen Johannes Paul II. entfernten. Für seine Verdienste wurde der polnische Philosoph mit dem Goldenen Verdienstkreuz, dem Orden des Heiligen Gregor und dem Großverdienstkreuz des Malteserordens mit Stern ausgezeichnet. In Polen wurde er u. a. mit dem Totus-Tuus-Preis, dem Phönix (zusammen mit seiner Frau Ludmila), dem Historischen Buch des Jahres und dem Titel Doktor Honoris Causa der Kardinal-Stefan-Wyszyński-Universität in Warschau ausgezeichnet.

Für den 28. bis 30. November 2022 war ein dreitägiges Seminar geplant, bei dem sich der Professor von seinen Studenten verabschieden und seinen Vorsitz des Karol-Wojtyla-Lehrstuhls offiziell beenden sollte. Aus gesundheitlichen Gründen konnte er die Konferenz jedoch nicht leiten. Am 20. Februar 2023 verstarb  Stanisław Grygiel in Rom. Gemäß seines Testamentes wurde er in seiner Heimatstadt Zembrzyce beigesetzt. Der polnische Staatspräsident verlieh ihm posthum das Offizierskreuz des „Order Odrodzenia Polski“ (dt. Orden der Wiedergeburt Polens).

Er bleibt in der dankbaren Erinnerung seiner Familie, seiner Freunde und zahlreicher Studenten auf der ganzen Welt, denen er viele schöne Worte auf den Seiten von Büchern und Artikeln hinterlassen hat, wie zum Beispiel diese: „Die Menschen kommen langsam zur Wahrheit. Sie reifen ständig in sie hinein, aber sie sind immer grün. Sie reifen bis zum Ende ihres Lebens, und die Wahrheit ist ihnen immer ein wenig voraus. Wenn sie sterben, wie der heilige Paulus sagen würde, schauen sie sie an und grüßen sie aus der Ferne (vgl. Hebr 11,13). Auch dann ist sie eine Verheißung, und sie hoffen, dass sie nicht enttäuscht werden.“

Quellen: Leben heißt philosophieren. Stanisław Grygiel im Gespräch mit Maria Zboralska, Warschau 2020;
S. Grygiel, „Od początku“ – na zawsze. Miłujmy prawdę małżeństwa“ (dt.„Von Anfang an – für immer. Lasst uns die Wahrheit über die Ehe schätzen“, nicht übersetzt. Anm. d. Übers.), Posen 2015.