„Wir leben, um für Jesus zu sterben!“

In Michaels Augen stehen Tränen und seine Stimme zittert. Er erzählt von seinem Großvater Ischo, an den er sich noch aus seiner Kindheit erinnert. Der Großvater lebte 110 Jahre lang und ist ein außergewöhnlicher Zeuge für den Glauben an die Macht des Geheimnisses des Kreuzes und der Auferstehung Jesu.

Ischo wurde im Jahr 1854 in einer christlichen Familie geboren, die in einem Dorf namens Kanak, in der Region Tur Abdin, im südlichen Osten der Türkei wohnte. Dieses Gebiet wurde hauptsächlich von Assyrern bewohnt, deren Muttersprache Aramäisch ist. Es gelang ihnen, den Glauben an Jesus fast zweitausend Jahre lang zu bewahren, trotz der ständigen Verfolgungen durch die Muslime: den arabischen Kalifen, den türkischen Sultanen und den kurdischen Nachbarn. Das Martyrium für den Glauben an Christus wurde zu einem festen Bestandteil des Bewusstseins eines jeden Assyrers. Dieses Volk hat den christlichen Glauben im ersten Jahrhundert n. Chr. angenommen und musste seither, bis auf den heutigen Tag, im Durchschnitt alle 50 Jahre schreckliche Verfolgungen erleiden. Von Kind an war Ischo Zeuge davon, wie man Köpfe abschnitt, Körper zerteilte und seine Landsleute erschoss, die betend und singend dem Tod entgegengingen. Ein Kurde stellte mehrere assyrische Männer auf, die Gott für die Gnade des Märtyrertodes lobten, und durchbohrte sie alle mit einem einzigen Schuss. „Wir leben, um für Jesus zu sterben“, pflegte Ischo zu sagen.

In einer Winternacht des Jahres 1915 drangen kurdische Truppen unter türkischer Leitung in das Dorf Kanak ein, um dort alle Christen zu töten. Ischo versteckte sich im Brunnen und blieb dort solange, bis alle Laute verstummten – das Stöhnen der Sterbenden und die Schreie der Angreifer. Es war dunkel, doch als er aus dem Brunnen herausrauskam, konnte Ischo die Leichen erkennen, die überall herumlagen. Im Dorf lebten 150 christliche Familien, doch er fand keinen Überlebenden … Ischo schritt durch das ausgestorbene Dorf und betete. Plötzlich sah er einen Mann und wenig später eine blutende Frau, die zu ihm sagte: „Man hat mir die Kleider vom Leib gerissen und mich vergewaltigt.“ Ischo gab ihr seinen Mantel und sagte, dass es sicherer wäre, wenn sie getrennt nach Rettung suchen würden.

Wo bist Du, Gott?

Nach der Trennung von den Überlebenden aus Kanak ging Ischo von Dorf zu Dorf, wo seit Jahrhunderten Assyrer lebten. Doch er sah nur Ruinen und die Körper von Ermordeten … Endlich gelangte er in ein bewohntes Dorf. Er freute sich sehr, doch als er die kurdische Sprache hörte, verstand er, dass die Häuser der Assyrer von Kurden übernommen worden waren. Doch er hatte keine andere Wahl: Wenn er weiter herumirrte, würde er an Erschöpfung sterben.

Ischo gab vor, ein kurdischer Hirte zu sein und fand eine Arbeit als Schafhirte für einen Laib Brot am Tag. Man vertraute ihm Schafe an, unter diesen erkannte Ischo auch seine eigenen Tiere, denn sie hatten an den Ohren eine Kerbe und ein bestimmtes Zeichen. Doch nun gehörten sie den Kurden, denen Ischo dienen musste.

Eines Tages tauchte im Dorf ein assyrischer Junge auf. Er war so schön, dass die Muslime ihn nicht töteten, sondern Ischo als Hilfe beim Hüten zuteilten. Der Assyrer erzählte dem Jungen, wer er sei und warum er bei Kurden arbeitete. Der Junge erzählte ihm weinend, wie die Muslime an der Schwelle seines Hauses seinen Eltern die Köpfe abschnitten … Das Kind behandelte Ischo wie seinen eigenen Vater. Sie beteten gemeinsam und hüteten die Schafe. Der Mann warnte den Jungen, niemals in Anwesenheit von Muslimen das Kreuzzeichen zu machen, den man könnte ihn dafür töten. Als der Junge eines Tages nicht zur Arbeit erschien, fühlte Ischo, dass ein Unglück geschehen war. Als er nach dem Hüten der Schafe ins Dorf zurückkehrte, sah er zu seinem Entsetzen wie Hunde den Leib des Jungen zerrissen … Am Hals seines kleinen Freundes befand sich ein Seil. Ischo vermutete, dass kurdische Kinder gesehen hatten, wie der Junge das Kreuzzeichen machte und daraufhin einen Strick um seinen Hals banden. Sie zerrten ihn so lange über die Erde, bis er starb …

Der Assyrer bat auf Knien, man möge ihm erlauben, den Körper des Jungen zu begraben. Die Folterer waren einverstanden.

„Kann man denn angesichts solch eines großen Leidens noch an die Liebe Gottes glauben?“, fragte sich Ischo und rief im Gebet: „Wo bist Du, Gott?“ Er hörte die Antwort nicht sofort … Am Grab des Jungen wandte er sich an den Himmel und es war ihm so, als hörte die ganze Welt seinen Schrei. Ein Trost waren ihm die Worte Jesu: „Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich schon vor euch gehasst hat (…). Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen (…). In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt“ (Joh 15,18.20; 16,33).

Ischo ließ sich nicht von den Zweifeln besiegen und weihte sich im Gebet Gott. Er fragte sich, wa­rum unschuldige Menschen leiden mussten, warum Christen verfolgt und getötet werden.

Der Mann arbeitete sieben Jahre lang für die Kurden, die seine Familie und seine Nächsten ermordet hatten. In dieser Zeit gelang es ihm, mehr als ein Leben zu retten. Wenn er mitbekam, auf welches assyrische Dorf ein Angriff geplant war, dann lief er dorthin, auch wenn er die ganze Nacht laufen musste, und warnte die Menschen vor der Gefahr.

Eine besondere Mission

Nach sieben Jahren floh Ischo nach Syrien, in die Ortschaft Kabre Hewore (heute Al-Qahtaniyya), wo Assyrer wohnten, die bereit waren, Landsleute aufzunehmen, denen es gelungen war, vor den Massakern in der Türkei zu fliehen. Ischo ließ sich dort nieder; er gründete eine Familie, arbeitete hart und zog seine Kinder auf. Er betete viel; er zeichnete sich durch große Lebensfreude, Wohlwollen und Hilfsbereitschaft den Nächsten gegenüber aus. Alle hielten ihn für einen Heiligen. Er starb plötzlich im Jahr 1940. Man bahrte den in ein Leichentuch eingewickelten Körper in der Kirche auf und am nächsten Tag versammelten sich alle Familienmitglieder und Bekannte aus der ganzen Gegend zum Begräbnis.

Am Morgen öffnete der Pfarrer die Kirchentür und der versammelten Trauergemeinschaft bot sich ein unglaublicher Anblick: Ischo stand lebendig da und begrüßte alle mit einem Lächeln. Die erschrockenen Menschen flohen, kehrten aber nach einer Weile zurück, denn sie waren davon überzeugt, dass ein Wunder der Auferstehung geschehen war.

Ischo erzählte ihnen, dass er nach dem Tod seinen Körper verlassen hat und sah, wie man ihn in ein Leichentuch wickelte und in die Kirche brachte. Nach einiger Zeit sah er die wunderschöne Gestalt der Muttergottes, die ihn in Gesellschaft zweier Engel in den Himmel brachte. Ischo sagte, dass die menschliche Sprache nicht ausreiche, um zu beschreiben, wie wunderschön es im Himmel ist und was für ein Glück dort herrscht. „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gedrungen ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben“ (1 Kor 2,9). Die Muttergottes hat ihm auch die Hölle gezeigt, deren Anblick so entsetzlich war, dass Ischo nicht viel darüber erzählen wollte. Er rief nur zur Bekehrung auf, zur Buße und zum Ausharren im Zustand der heiligmachenden Gnade, denn sonst drohe dem Menschen die entsetzliche Wirklichkeit der ewigen Verdammnis.

Als Ischo im Himmel war, wollte er nicht mehr zum irdischen Leben zurückkehren, doch es wurde ihm gesagt, dass er eine wichtige Mission auf der Erde zu erfüllen habe. Er bekam von der Muttergottes die Aufgabe, den Menschen bewusst zu machen, dass in ihren Leiden das Leid Jesu gegenwärtig ist. Sie sollten sich nicht fürchten, denn Jesus ist immer mit ihnen vereint. Denn in ihren Leiden und in ihrem Märtyrertod vergegenwärtigt sich nochmal sein Leid und sein Tod für die Erlösung der Welt. Ischo sagte, dass man das Böse nur durch das Gute überwinden kann, und den Hass durch Liebe. Man muss das Böse und die Sünde hassen, aber den Sünder lieben und für seine Bekehrung beten. Der Assyrer betonte auch, dass man in die himmlische Freude nur auf dem Weg des Kreuzes und Leidens komme. Wenn den Menschen irgendein Leid trifft, dann muss er es annehmen und Jesus übergeben. Dann wird dieses Leid zu einer Quelle unglaublicher Gnaden. Die Rebellion gegen Gott hingegen bewirkt, dass das Leid den Menschen zerstört und ihn auf den Weg in die Hölle führt. Ischo erinnerte die Menschen, die zu ihm kamen, daran, dass Jesus nur dann alle Sünden vergibt, wenn sie im Gegenzug von Herzen ihren Schuldigern vergeben. Er ermutigte sie, für ihre Feinde zu beten, so wie Jesus es am Kreuz tat: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34).

Ischo ermahnte die Priester, viel zu beten und mutig das Evangelium zu verkünden. Er sagte auch viele Ereignisse voraus, die sich später erfüllten.

Alle sahen, dass Ischo begeistert war von der Liebe, mit der Jesus und Maria jeden Menschen lieben, und so verbrachte er viel Zeit im Gebet. Er nahm täglich an der Eucharistiefeier teil und beichtete regelmäßig. Er wartete sehnsuchtsvoll auf den Tag seines Todes, denn er wusste aus eigener Erfahrung, welches Glück den Menschen im Himmel erwartet. Er sagte, dass die größte Tragödie des Menschen darin besteht, in Todsünden zu verharren und sich nicht zu bekehren. Er ermutigte die Menschen, die ihn aufsuchten, zur Bekehrung. Sie sollten zu Jesus gehen, der in den Sakramenten der Buße und Eucharistie gegenwärtig ist. Es lässt sich nicht beschreiben, wie sehr das, was er sagte, die verfolgten Christen in ihrem Glauben stärkte, die noch die Verbrechen des Völkermords im Gedächtnis hatten!

Durch seinen tiefen und mutig bekannten Glauben sowie durch seine Prophezeiungen, die sich erfüllten, erweckte Ischo Respekt und Ehrfurcht bei den örtlichen Muslimen.

Wäre es nicht der Herr gewesen, der da war für uns (Psalm 124,1)

Ischo besuchte Freunde, die aus Kanak stammten. Auf wundersame Weise wurden etwa 30 Familien von dort gerettet. Die wundersam Geretteten erzählten von Rittern in weißen Gewändern, die die massakrierten Assyrer retteten, indem sie sie aus der Mitte des blutigen Gemetzels he­rausholten. In den Jahren 1914 bis 1918 töteten türkische und kurdische Truppen, manchmal unter der Leitung deutscher Offiziere, über 750.000 Assyrer. Es grenzt an ein Wunder, dass in der Region Tur Abdin heute noch Assyrer leben. Ischo sah mit eigenen Augen, wie die Kurden einen assyrischen Priester von einem Felsen in die Tiefe stürzten und ihm nichts geschah. Die entsetzten Angreifer liefen zu ihrem Imam, um es ihm zu erzählen. Sie fragten ihn, ob denn nicht zufälligerweise Jesus seinen Diener gerettet hat. Der Imam beschimpfte sie und sagte, dass nur der Islam die einzige wahre Religion sei. Da zerrten die Kurden den Imam zu demselben Felsen und sagten: „Wir werden sehen, ob Allah dich auch retten wird“ – und sie stießen ihn in die Tiefe. Der Imam kam zu Tode.

Die Christen in der Stadt Azah (heute İdil) waren eine der wenigen, die versuchten, sich zu wehren. Unter den Assyrern wird die Erinnerung an die Verteidiger der Stadt von Generation zu Generation weitergegeben. Die kurdischen Truppen konnten die Stadt drei Monate lang nicht erobern, da jeder Angriff von einem mächtigen Geschützfeuer, aus im Bereich der Kirche aufgestellten Kanonen, abgewehrt wurde. Der Widerstand wurde erst gebrochen, als türkische Soldaten unter der Leitung eines deutschen Offiziers anrückten. Als dieser Offizier zusammen mit den Soldaten die Kirche stürmte, fand er dort eine Schar von Frauen und Kindern vor, die beteten. „Und wo sind eure Kanonen?“, fragte er. Die entsetzten Frauen wussten nicht, wovon er redete, denn in der ganzen Stadt gab es keine einzige Kanone … Als er das sah, bekehrte sich der deutsche Offizier und wurde später Priester. Bei den Assyrern wird bis heute die Muttergottes von Azah verehrt, die das um Schutz flehende Volk bewahrte.

Die Jahre vergingen; Ischo wurde 100 Jahre alt, doch er bewahrte seine Kraft, seine Lebensfreude und seinen klaren Verstand. Er ging täglich in die Kirche, betete dabei laut und sang die Psalmen, was in muslimischen Ländern undenkbar ist, wo das öffentliche Gebet eines Nicht-Muslims verboten ist oder mit dem Tod bestraft wird. Alles, worum er betete, ging in Erfüllung, außer der Bitte um den eigenen Tod. Die Leute begannen sogar schon zu sagen, dass Ischo niemals sterben würde. Doch er wollte gar nicht auf der Erde bleiben, hatte er doch schon einen Vorgeschmack auf den Himmel gehabt. Die irdische Mission des Assyrers endete im Jahr 1964, als er 110 Jahre alt war. Ischo ging durch das Tor des Todes in die himmlische Freude ein. In seinem irdischen Leben handelte er so wie der Mensch, von dem das Evangelium berichtet, dass er, als er einen im Acker versteckten Schatz gefunden hatte, alles verkaufte, was er besaß, und diesen Acker kaufte (vgl. Mt 13,44). Dieser größte Schatz ist für jeden von uns der auferstandene Jesus, der Sieger über den Tod, die Hölle und den Satan.