Wir haben es mit einer mutierten Version der marxistischen Ideologie zu tun, die als Neomarxismus bezeichnet wird. Die Übertragungsketten dieser Mutation werden in der heutigen Zeit im Westen vor allem von akademischen und medialen Institutionen geschaffen (einschließlich dem Internet).
Ein „Lifting“ des Kommunismus
In der Einleitung zu ihrem 1848 veröffentlichten Kommunistischen Manifest schrieben seine Autoren, Karl Marx und Friedrich Engels, dass „der Geist des Kommunismus über Europa kreisen“ würde. Nach über 170 Jahren kann man sagen, dass dieser Geist sich auf unserem Kontinent in ein reales Wesen verwandelt hat – insbesondere an den Hochschulen und in den Medien –, und dass das Wort „Kommunismus“ einem speziellen „Lifting“ unterzogen wurde.
Wie die zeitgenössische französische Denkerin Chantal Delsol bemerkt, existiert in den modernen Kultureliten der westlichen Welt das merkwürdige Phänomen einer Asymmetrie bei der Haltung gegenüber den beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts: „Seit Jahrzehnten wird die nationalsozialistische Vergangenheit in einzelne Atome zerlegt, sie wird verfilmt, analysiert, mumifiziert, einbalsamiert, immer wieder durchgekaut. Alles erinnert an sie, alles bezieht sich auf sie, sie erklärt die Gegenwart, die Zukunft und die Vergangenheit. Und wer beschäftigt sich damit, die Trümmer aufzuräumen, die der Kommunismus hinterlassen hat? Wer erinnert an den Völkermord in der Ukraine, welcher Film wurde über die Gulags gedreht? Wir haben fünfzig Jahre damit verbracht, auch die kleinsten Namenslisten ehemaliger Kollaborateure des Nazismus zu finden, um jene aufzuspüren, die übrig geblieben sind, damit sie mit Schande bedeckt werden können. Aber wo sind die Listen mit jenen Franzosen, die für die Sowjets gearbeitet haben?“ (Ch. Delsol, Kamienie węgielne. Na czym nam zależy? [Ecksteine. Worauf kommt es uns an?], Krakau 2018, S.253-254).
In einem anderen ihrer Bücher antwortete die französische Gelehrte auf diese Frage, indem sie darauf hinwies, dass diese Disproportion bei der Behandlung der beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts aus der in der westlichen intellektuellen Welt verwurzelten Überzeugung rühre, dass der kommunistische Totalitarismus ja doch auch Emanzipation propagiert habe. Zwar eine demoralisierte Emanzipation, aber dennoch eine Emanzipation: „Die postmoderne Epoche, das 21. Jahrhundert, hat die Kriterien von Gut und Böse umgestaltet. Gut sind ausschließlich Fortschritt und Emanzipation. Böse ist die Bindung an Wurzeln und das Suchen nach Grenzen. Deswegen darf man an unseren Universitäten mit Stalin oder Lenin angeben, aber nicht mit Hitler“ (Ch. Delsol, Nienawiść do świata. Totalitaryzmy i ponowoczesność [Hass auf die Welt. Die Totalitarismen und die Postmoderne], Warschau 2017, S.25).
Delsol, die Politikphilosophie an einer Pariser Universität lehrt, bemerkt darüber hinaus, dass im 21. Jahrhundert „die Länder des Westens in unterschiedlichem Ausmaß und abhängig von den Einzelfällen ein Projekt verwirklichen, das sehr an das Projekt von Marx erinnert. Die Postmoderne wirkt heute in manchen Ländern, darunter auch in Frankreich und in den europäischen Institutionen, wie eine Ideologie, die den Menschen überaus häufig auf künstliche und erzwungene Weise aufgedrängt wird. […] Heute versuchen wir immer noch, diese Revolution zu vollenden, die weder den Jakobinern noch den Bolschewiken gelungen ist. Wir versuchen, die Menschheit wie ein unbeschriebenes Blatt zu behandeln und die totale Emanzipation zu schaffen“ (ebenda, S. 39,45).
Der sowjetische Kommunismus ist tot? Es lebe die Revolution!
Dies ist eine sehr wichtige und zutreffende Diagnose des intellektuellen Klimas, in dem sich ein bedeutender Teil der intellektuellen und kulturellen Eliten der westlichen Welt befindet (ich schreibe hier nicht von solchen Staaten wie China oder Nordkorea, die immer noch offiziell kommunistische Staaten sind). Durch ihre Institutionen – akademische, mediale, schließlich auch politische – ist in den letzten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts die „68er Generation“ siegreich hindurchmarschiert. Ganz kurz gesagt, lebt diese Generation in der Überzeugung, dass auch wenn der sowjetische Kommunismus gestorben ist, die Revolution immer noch lebt (und leben soll).
In unseren Zeiten lautet eine andere Bezeichnung für diese Revolution auch, wie die oben zitierte Ch. Delsol bemerkt, „Emanzipationstrieb“, der alle nur möglichen Grenzen negiert, darunter auch jene, die vom Naturrecht gezogen werden. Im Übrigen wird nicht nur dieses negiert. Auch die Existenz der Natur selbst im biologischen Sinn wird schließlich in Frage gestellt. Seit über zehn Jahren hält eine unaufhörliche Propaganda an, die uns einreden will, dass es keine von der Biologie bestimmten zwei Geschlechter gäbe. Angeblich gibt es deutlich mehr davon – gemäß der Weltgesundheitsorganisation WHO über fünfzig –, und jedes von ihnen ist Gegenstand der freien Entscheidung eines total emanzipierten Individuums.
Es gibt noch andere Worte, die die Absicht beschreiben, den Menschen auf revolutionäre Weise neu zu erschaffen. „Toleranz“ (verstanden als Zustimmung), „Kampf gegen hate speech“ (also der Ausschluss oder die gesellschaftliche Herabsetzung von Menschen, die ernsthaft an Christus glauben und im gesellschaftlichen Leben die Konsequenzen dieses Glaubens umsetzen wollen), „Fortschritt“ (in unbekannter Richtung), „Recht auf Wahlfreiheit“ (das in einem Augenblick angebracht wird, in dem es diese Wahl nicht mehr gibt, weil der ungehinderte Egoismus nur auf Kosten eines anderen menschlichen Wesens verwirklicht werden kann) – dies sind nur einige der häufigsten im medialen oder virtuellen Raum auftauchenden Universalwörter, die die Absicht der revolutionären sozialen und kulturellen Umgestaltung zudecken sollen.
Das Virus mutiert
Dies sind die Konsequenzen der Annahme einer bestimmten Ideologie. Wir haben es mit einer mutierten Version der marxistischen Ideologie zu tun, die als Neomarxismus bezeichnet wird. Die Übertragungsketten dieser Mutation werden in der heutigen Zeit, im Westen, vor allem von akademischen und medialen Institutionen geschaffen (einschließlich dem Internet). Dies hat zur Folge, dass der mutierte Marxismus sehr ansteckend und schwer zu behandeln ist. In vielen Fällen infiziert er symptomlos insbesondere junge Menschen, die von verschiedensten Internet– „Influencern“ angesteckt werden. Die ältere Generation macht diese Infektion schwerer durch, weil sie oftmals noch Begleitkrankheiten in Gestalt einer Nostalgie gegenüber vergangenen Zeiten hat – wie es etwa in Polen der Fall ist –, oder weil sie irgendwann einmal ihr Immunsystem geschwächt hat, indem sie aus Karrieregründen in die Kommunistische Partei eintrat (die sich unter Namen wie z.B. „Polnische Vereinigte Arbeiterpartei“ verbarg).
Wie kann man einer Infektion mit dem Virus des Neomarxismus entgehen? Durch Distanz: Indem man zu der oben erwähnten Übertragungskette auf Abstand geht. Durch Desinfektion: Indem man sich durch eine gute intellektuelle Bildung keimfrei hält. Durch eine Atemschutzmaske in Gestalt der Pflege des eigenen geistlichen Lebens, des Glaubens nicht nur auf individueller, sondern auch auf sozialer Ebene.
Eine falsche Vision des Menschen
Um zu erkennen, was Neomarxismus ist, muss man sich mit seiner Mutterideologie bekannt machen, also mit dem Marxismus. Unser Anführer wird hier der hl. Johannes Paul II. sein, der vor dreißig Jahren eine der wichtigsten Sozialenzykliken der Kirche veröffentlichte: Centesimus annus (1991). Sie erschien kurz nach dem Zerfall der kommunistischen Regimes in Mitteleuropa. Der Eiserne Vorhang fiel, die Berliner Mauer fiel, und einige Monate nach der Publikation der Enzyklika zerfiel das sowjetische Imperium des Bösen.
Der Heilige Vater wies in seiner Reflexion über die Ursachen eines solch spektakulären Untergangs des Kommunismus auf unserem Kontinent auf diese falsche Ideologie hin, also auf den Marxismus, aus dem die kommunistischen Regimes hervorgewachsen waren und auf den sie sich gestützt hatten. „Der Grundirrtum des Sozialismus ist anthropologischer Natur“, so schrieb der hl. Johannes Paul II. in Centesimus annus (CA 13). Hierbei geht es um eine fundamental falsche Vision des Menschen, der zufolge „das Wohl des Einzelnen dem Ablauf des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Mechanismus völlig untergeordnet wird“. In dieser Vision hört der Mensch auf, eine Person zu sein, die moralische Entscheidungen trifft und damit auch die Verantwortung für das von ihr begangene Gute und Böse übernimmt, und „wird auf diese Weise zu einem Bündel gesellschaftlicher Beziehungen verkürzt“ (ebenda).
Es zählt nur die Materie und der Kampf
Auf diese Weise bezog sich der hl. Johannes Paul II. auf das Wesen der marxistischen Philosophie, die im Materialismus besteht. Der Mensch hat das Leben nur auf dieser, der sichtbaren Welt vor sich. Der Tod beendet alles. Der Mensch besteht nicht aus Leib und Seele, sondern nur aus seinem Leib. Es gibt keine Auferstehung, also auch kein zukünftiges Leben im Leib, denn es gibt keinen Erlösergott. Es gibt überhaupt keinen Gott. Dies ist in aller Kürze das Wesen des Materialismus, das Karl Marx im Ganzen übernommen hat, indem er dem Materialismus noch seinen eigenen Stempel aufgedrückt hat.
In diesem Kontext muss vor allem auch die materialistische Geschichtsphilosophie von Marx betrachtet werden, also der historische Materialismus. Dieser besagt, dass der Kern der Gesellschaftsgeschichte der Drang nach der Herrschaft über die „Produktionsmittel“ sei. Der sogenannte wirkliche Mensch sei vor allem an der Produktion interessiert, an der Vermehrung des Kapitals. Es zählt nur die Wirtschaft, die Herstellung. Dies sei die wahre „Basis“. Die Sphäre der Ideale, der Moral, oder schließlich auch die Religion sei hingegen ein kommender und wieder gehender, im Grunde genommen nur nebensächlicher „Überbau“.
Man muss bedenken, dass die gesamte Philosophie von Marx, darunter auch seine Geschichtsphilosophie, unter dem übermächtigen Einfluss der deutschen idealistischen Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts heranreifte. Von ihrem berühmtesten Vertreter – Georg Wilhelm Hegel – schöpfte Marx den dialektischen Blick auf die Wirklichkeit, also die Überzeugung, dass der Schlüssel zur Erkenntnis der geschichtlichen Gesetze die Existenz von Widersprüchen ist, die sich in ständigem Aufreiben und im Konflikt abtragen. Der Marxismus propagiert nämlich einen dialektischen Materialismus, also die Überzeugung, dass die gesellschaftliche, wirtschaftliche, aber auch kulturelle Entwicklung der Menschheit durch aufeinanderfolgende Widersprüche stattfindet, die mithilfe gewaltsamer Umstürze (Revolutionen) gelöst werden. Die Herrschaft über die „Produktionsmittel“ ist Marx zufolge die entscheidende Frage, was den Lauf der Geschichte betrifft. Und wenn es so ist, dann müssen alle wichtigen historischen Prozesse und Ereignisse mit den materiellen Interessen ihrer Teilnehmer erklärt werden.
Für Marxisten und ihre modernen Nachahmer der neomarxistischen Schule sind beispielsweise die Kreuzzüge nicht aus der Anteilnahme vieler Menschen im Westen an dem Schicksal des Heiligen Landes – insbesondere des Heiligen Grabes in Jerusalem – hervorgegangen, wobei diese Sorge einem tiefen Glauben an den Erlöser entsprang, der dieses konkrete Stück Erde mit Seiner Gegenwart geheiligt hatte (wäre Er nur ein gewöhnlicher Mensch gewesen, wozu sollte man sich überhaupt darum kümmern). Nein, für die Marxisten und ihre ideellen Nachfahren rührten die Kreuzzüge aus dem Willen der „feudalen Klasse“ und des „reichen Bürgertums der italienischen Städte, die danach strebten, die Handelsrouten im östlichen Teil des Mittelmeers zu beherrschen.“ Dies ist nur ein kleines Beispiel für das Denken à la Marx über die Geschichte. Und dabei gibt es doch noch viel mehr solcher Beispiele. Es genügt, sich einmal daran zu erinnern, auf welche Art die Entscheidung des Königs Mieszko I. zum Empfang der Taufe im Jahre 966 erklärt wird. Hier werden alle möglichen und unmöglichen Umstände genannt. Außer dem einen: dass der Piastenfürst zum Glauben an Christus gekommen war.
Ohne Liebe und ohne Freiheit
Um die Herrschaft über die „Produktionsmittel“ kämpfen die einzelnen sozialen Klassen, die unbedingt miteinander im Konflikt liegen müssen. Es gibt hier keinen Platz für den christlichen Aufruf: „Einer trage des anderen Last.“ Wie Kardinal Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI. treffend kommentierte: „Diese Vision, die mit Hegels Geschichtsphilosophie im Zusammenhang steht, mit dem liberalen Dogma des Fortschritts und mit seiner sozioökonomischen Interpretation, führte zu der Hoffnung auf eine klassenfreie Gesellschaft, die infolge des historischen Fortschritts entstehen sollte, als Endprodukt des Klassenkampfs. Auf diese Weise kam die einzige und endgültige normative Idee auf: Gut ist das, was zu jenem Zustand des Glücks führt, und böse ist, was dem Widerstand leistet.“
Das Instrument zur Erlangung dieses von Marx aufgezeigten „Guts“ sollte Gewalt sein, also die Revolution. Alles, was der Revolution dienen sollte, war gut. Mehr noch, es war wissenschaftlich objektiv, denn schließlich war der Marxismus ein „wissenschaftlicher Sozialismus“. Wie der hl. Johannes Paul II. in Centesimus annus schrieb, ist ein solcher Geisteszustand, diese stolze Meinung, man habe die Weisheit mit Löffeln gefressen, was die Organisation des sozialen und wirtschaftlichen Lebens anbelangt, eine Einladung zur Errichtung einer totalitären Politik: „Wenn Menschen meinen, sie verfügten über das Geheimnis einer vollkommenen Gesellschaftsordnung, die das Böse unmöglich macht, dann glauben sie auch, dass sie für deren Verwirklichung jedes Mittel, auch Gewalt und Lüge, einsetzen dürfen. Die Politik wird dann zu einer »weltlichen Religion«, die sich einbildet, das Paradies in dieser Welt zu errichten. Aber niemals wird irgendeine politische Gesellschaft, die ihre eigene Autonomie und ihre eigenen Gesetze besitzt, mit dem Reich Gottes verwechselt werden können“ (CA 25).
Auch macht er darauf aufmerksam, dass die Ansprüche des Marxismus auf den Besitz „wissenschaftlichen, objektiven“ Wissens nicht nur den Mechanismus der sozialen Umwandlungen betrafen (der durch die Revolution entschiedene „Klassenkampf“), sondern auch seine Richtung. Die Marxisten wussten von vornherein, „wie das alles enden wird“. Am Ende der Geschichte sollte der Kommunismus als Erfüllung des „Himmels auf Erden“ stehen. Dies bedeutete, dass die Freiheit vollkommen verloren ging. Es herrschte der Determinismus, denn so waren die von Marx und Engels entdeckten „objektiven geschichtlichen Gesetze“.
Den Einfluss einer solchen Denkweise finden wir in den in unseren Zeiten populären Theorien darüber, dass wir „an das Ende der Geschichte“ gelangt seien, d.h., zum unzweifelhaften Sieg der liberalen Demokratie (F. Fukuyama), oder dass es „außerhalb der Union kein Leben gibt“ (die Europäische Union als institutionelle Dimension des „Endes der Geschichte“). Vom Marxismus infiziert sind auch jene, die verkünden, dass die Kritik an homosexuellen Verhaltensweisen sowie die Ablehnung von Privilegien für „LGBT-Menschen“ ein Beweis dafür sei, dass man „auf der falschen Seite der Geschichte“ stehe.
Es existiert in den modernen Kultureliten der westlichen Welt das merkwürdige Phänomen einer Asymmetrie bei der Haltung gegenüber den beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts
„Die postmoderne Epoche, das 21. Jahrhundert, hat die Kriterien von Gut und Böse umgestaltet. Gut sind ausschließlich Fortschritt und Emanzipation“
(Ch. Delsol)
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