Der moralische Verfall – sowohl in Bezug auf das individuelle Verhalten als auch in der Gesellschaft – ist das ständige Erbe aller Totalitarismen.
Die fatelen Folgen der „totalitären Demokratie“
Der bedeutende Denker des 19. Jahrhunderts und scharfer Kritiker der Französischen Revolution, Joseph de Maistre, pflegte zu sagen, dass „das Schlimmste an einer Revolution nicht das ist, was sie zerstört, sondern das, was sie erschafft“. Im Falle Frankreichs hat sie eine Generationenlücke geschaffen, die dadurch entstanden ist, dass, in den fast 30 Jahren der Revolution und der anschließenden napoleonischen Herrschaft, eine völlig neue Generation im Land aufgewachsen ist, für die die katholische Religion und die daraus hervorgegangene Kultur und Bräuche etwas völlig Fremdes waren. Besonders aussagekräftig waren in dieser Hinsicht die Worte des Heiligen Johannes Maria Vianney, der, zu Beginn seiner Amtszeit als Pfarrer in Ars, in den ersten Jahren nach dem Sturz Napoleons seine Gemeindemitglieder mit „Wesen verglich, die sich von Tieren nur durch die Taufe unterscheiden“.
Der moralische Verfall – sowohl in Bezug auf das individuelle Verhalten als auch in der Gesellschaft – ist das ständige Erbe aller Totalitarismen. Das war auch im Falle Frankreichs nicht anders, dem ersten Land in Europa, das der „totalitären Demokratie“ (Jacob Talmon) zum Opfer fiel. Es „erzog“ eine neue Generation von Franzosen nach einer Maxime, die während der Revolution von, dem moralisch degenerierten Aristokraten und leidenschaftlichen Befürworter des antichristlichen Umsturzes nach 1789, Marquis Donatien de Sade, ausgesprochen wurde. Er ermahnte seine Mitjakobiner: „Franzosen, macht nur die ersten Schläge [gegen den Katholizismus – Anm. G.K.], den Rest erledigt das öffentliche Bildungswesen“.
Bildung im Sinne der revolutionären „totalitären Demokratie“ sollte nicht auf Wissensvermittlung und Charakterbildung basieren, also auf dem, was jede ordentliche Schule tun sollte. Die Essenz des neuen Bildungsansatzes wurde von Georges Danton – einem der revolutionären Führer – mit der für alle Totalitaristen typischen Arroganz zum Ausdruck gebracht, als er vom Parlamentspodium erklärte: „Kinder gehören zuerst der Republik und dann erst ihren Eltern“. Und er fügte sogleich hinzu: „Wer garantiert mir, dass Kinder, die von egoistischen Vätern erzogen werden, der Republik nicht gefährlich werden?“.
Dies ist die Quintessenz des totalitären Politikverständnisses: die Unterordnung aller Dinge unter den Staat unter Verletzung der natürlichen (familiären) sozialen Bindungen. All dies im Namen einer revolutionären, grundlegend antichristlichen Ideologie. Wie der jakobinische Kriegsminister Jean-Baptiste Bouchotte erklärte: „Junge Menschen sind besser geeignet, der Revolution zu dienen, als solche, die unter der Herrschaft alter Gewohnheiten alt geworden sind“. Sein Klubkollege, der jakobinische Abgeordnete Alexandre Deleyre, stellte in seiner von ihm verfassten Broschüre „Gedanken über die nationale Bildung“ fest: „Es wurden Gesetze zum Nutzen der Nation geschaffen; jetzt geht es darum, eine Nation [Hervorhebung: G. K.] zum Nutzen dieser Gesetze zu schaffen, und das durch das öffentliche Bildungswesen“.
Die auf diese Weise „geschaffene“ französische Nation sollte vollständig von ihrem christlichen (katholischen) Erbe getrennt werden. Die republikanische Erziehung sollte durch andere, von der „totalitären Demokratie“ geschaffene, Instrumente unterstützt werden. Ein solches Instrument war der neue republikanische Kalender, der die christliche Zählweise der Jahre ab Christi Geburt, durch eine neue Zählweise – ab der Gründung der Republik in Frankreich (1792) – ersetzte. Philippe Fabre d‘Églantine, einer der Haupförderer dieser „Kalenderreform“, erklärte: „Die lange Gewohnheit des gregorianischen Kalenders hat das Gedächtnis des Volkes mit einer beträchtlichen Menge von Vorstellungen gefüllt, die lange Zeit respektiert wurden und die noch heute die Quelle ihrer religiösen Irrtümer sind. Es ist daher notwendig, diese Vorstellungen der Unwissenheit durch die Wirklichkeit des Geistes zu ersetzen, die Würde des Priestertums durch die Wahrheit der Natur.“
Nach fast 30 Jahren dieser (Anti–)Erziehung war die Situation dramatisch. Hinzu kamen die direkten Folgen der physischen Ausrottung des katholischen Klerus durch das Revolutionsregime, die dazu führte, dass viele französische Gemeinden schlichtweg keinen Pfarrer hatten. Es sei daran erinnert, dass es zur Zeit der Machtergreifung Napoleons (1799) und ein Dutzend Jahre später, bei der Rückkehr der Monarchie nach Frankreich (1815), Diözesen in diesem Land gab, in denen nur ein Viertel der Pfarreien mit Priestern besetzt war.
Sehr aussagekräftige Worte richtete der Apostolische Nuntius in Paris, 1826, in seinem Bericht an den Heiligen Stuhl: „Mehr als die Hälfte des französischen Volkes ist in völlige Unkenntnis der christlichen Pflichten und in religiöse Gleichgültigkeit versunken. Man könnte fragen: Gibt es selbst in der Hauptstadt [Paris] zehntausend Menschen, die praktizieren? “
Die Gemeinde von Ars hatte die außerordentliche Gnade Gottes, dass ihr Pfarrer, zu der Zeit als der päpstliche Diplomat diese Worte schrieb, der heilige Johannes Maria Vianney war. Es bedurfte seines großen geistigen Heldentums und langer Stunden im Beichtstuhl, damit sich seine Gemeindemitglieder schließlich von den Tieren unterschieden, und zwar nicht nur durch die Taufe. Aber es gab Hunderte von Pfarreien in Frankreich, und nicht jeder Pfarrer war so heilig wie der von Ars.
Schöne Slogans und harte Realität
Der selige Kardinal Stefan Wyszyński wies wiederholt auf die katastrophalen Folgen der „programmierten Kälte gegenüber Gott“ hin, die die kommunistischen Behörden in Polen nach 1945 betrieben. Die Kommunisten beriefen sich auf die Prinzipien des Laizismus, der im Europa des 19. Jahrhunderts eine Reihe von antikatholischen Kulturkriegen (Kulturkampf) ausgelöst hatte, und verbreiteten die Parole der „Trennung von Kirche und Staat“. Wie der selige Primas des Jahrtausends feststellte, handelt es sich dabei um einen im Grunde heuchlerischen Slogan. „Die Parole von der ‚Trennung von Kirche und Staat‘, die heute in Umlauf gebracht wird, ist ein Versuch, eine Linie zu ziehen: hier die Kirche, dort der Staat – das heißt die Nation. Versuchen Sie das, und sehen Sie, ob es Ihnen gelingt. Es wird die sinnloseste Arbeit sein, als wollte man lebende Menschen zertrennen und sagen: hier die Seele, dort der Körper. Und doch gibt es überall eine Seele und überall einen Körper. […] Was im Menschen vereint ist, Geist und Körper, muss sein Spiegelbild in weiteren Plänen haben: die Familie, die Nation, der Staat, das soziale, berufliche, kulturelle Leben – die letzten Dinge des Menschen, der in der großen internationalen Familie lebt“ (Jasna Góra, 27. November 1966).
Ähnlich trügerisch ist der Slogan, dass Moral eine „Privatsache“ sei, der von liberalen Säkularisten im 19. Jahrhundert verwendet und von den Kommunisten in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg zur Bekämpfung der christlichen Moral übernommen wurde. Der selige Primas Wyszynski hingegen betonte, dass „unser individuelles Leben auf das gesellschaftliche Leben projiziert werden muss, dass die persönliche Moral nicht nur von individueller Bedeutung ist. In der Tat ist die Moral keine private, sondern eine öffentliche Angelegenheit. Es ist mir nicht gleichgültig, wer jemand ist, der mit mir zu tun hat, denn der Lebensstil dieses oder jenes Menschen, seine geistigen, moralischen und persönlichen Werte werden sich bemerkbar machen“ (Warschau, 21. April 1966).
In ähnlicher Weise widerlegte der selige Kardinal Stefan Wyszynski das Argument der (liberalen) Säkularisten des 19. Jahrhunderts und deren (kommunistischen) Nachfolger des 20. Jahrhunderts, die einhellig behaupteten, nicht nur die Moral, sondern auch die Religion sei „Privatsache“. „Es wird manchmal gesagt: Meine Religion ist eine Privatsache. Nein, lieber Bruder. Das ist der größte Irrtum! Du bist überhaupt keine Privatperson. Auch das, was in dir vorgeht, ist keine Privatsache, denn es betrifft jeden von uns. Ich bin persönlich daran interessiert, was in dir vorgeht, und du bist daran interessiert, was in mir vorgeht und wer ich bin“ (Warschau, 2. August 1966).
„Die Freimaurer-Angel“
Es ist zu beachten, dass der selige Primas des Jahrtausends den geschichtlichen Hintergrund des antikatholischen Kulturkampfes der Säkularisten des 19. Jahrhunderts sehr treffend charakterisiert hat. In einer seiner Predigten sagte er: „In einer Zeit, in der man sich zu sehr um die Vorherrschaft der Kirche über den Staat sorgte, entstanden verschiedene Theorien, wie zum Beispiel: ‚Eine freie Kirche in einem freien Staat’, ‚Lassen wir die Kirche in Ruhe und die Kirche lässt uns in Ruhe’. Doch schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts erkannte man, dass die so genannte absolute Freiheit der Kirche im Staat, der Kirche in ihrer Entwicklung zu sehr half. Deshalb wurde etwas anderes erfunden, nämlich die so genannte Trennung von Kirche und Staat“ (Warschau, 25. Januar 1976).
Diese kurze Beschreibung bringt den Kern der Sache auf den Punkt, nämlich, dass die liberalen Bewegungen und die Freimaurerei, die „hinter den Kulissen“ agieren, hinter harmlos klingenden Slogans darauf abzielen, durch aufeinanderfolgende Säkularisierungskampagnen, die grundlegenden bürgerlichen Freiheiten der Menschen, die ernsthaft an Christus glauben und Teil der von ihm gegründeten Kirche sind, radikal einzuschränken. Der vom seligen Kardinal Stefan Wyszyński erwähnte Slogan „eine freie Kirche in einem freien Staat“ (klingt schön, nicht wahr?) stammt von dem italienischen liberalen Politiker und hochrangigem Freimaurer Camillo Cavour (1810-1861). Als Premierminister von Piemont führte er Anfang des 19. Jahrhunderts eine Politik, die direkt auf die Versklavung der Kirche abzielte, indem er ihr das Eigentum entzog, das ihr die materielle Unabhängigkeit sicherte, die Kirche aus dem Bildungswesen verdrängte und eine Reihe von Ordenshäusern abschaffte.
An anderer Stelle bezeichnete der selige Kardinal Stefan Wyszynski den Laizismus als „Seelenfischen mit der Freimaurer-Angel“ (Jasna Góra, 30. August 1961). Auch diese Behauptung wird von den, durch historische Quellen belegten, Tatsachen voll bestätigt. Im 19. Jahrhundert (Piemont, Frankreich, Preußen, Portugal) waren die Freimaurerlogen die Initiatoren und die wichtigste organisatorische Stütze bei der Umsetzung der laizistischen Politik der „Trennung von Kirche und Staat“. Daraus machte die Freimaurerei damals wie heute keinen Hehl. Als liberale Kreise in Frankreich 2005 pompös den 100. Jahrestag des Gesetzes über die „Trennung von Kirche und Staat“ in diesem Land feierten (ein Vorbild für alle späteren Laizisten, ob in Portugal, Mexiko oder der Sowjetunion), organisierte die Pariser Zentrale des Grand Orient de France – der größten Freimaurerloge des Landes – eine Ausstellung über die Ursprünge und die Bedeutung des Gesetzes. Alles wurde als „große Errungenschaft des republikanischen Ethos“ dargestellt, die ohne die Beteiligung der Freimaurerei nicht möglich gewesen wäre. In der Praxis bedeuteten Slogans wie „freie Kirche in einem freien Staat“ jedoch den Versuch, die Gläubigen mit restriktiven Gesetzen einzuschränken, und unter dem Banner der „Trennung von Kirche und Staat“ wurde – wie der selige Kardinal Stefan Wyszyński sagte – eine Politik der „Säuberung der gläubigen Bürger von religiösen und katholischen Elementen“ unter Missachtung jeglicher moralischer Grundsätze betrieben (Warschau, 27. Januar 1974).





