„Ich wäre mit einem Leben voller Leiden einverstanden, aber nicht mit einem Leben ohne Sinn“ – bekannte Raissa Oumancoff ihrem Freund Jacques Maritain während eines Spaziergangs durch Paris. Die jungen Leute beschlossen, Selbstmord zu begehen, wenn sich ihnen nicht in nächster Zeit der Sinn des Lebens erschloss …
Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens
„Wenn man nicht in der Wahrheit leben kann, so wollen wir sterben und unser Tod sollte ein bewusster Protest sein“, so erinnerte sich nach Jahren Raissa an ihren geplanten Selbstmord (Wielkie przyjaźnie, s. 48, dt. Große Freundschaften). Dieser überraschende Entschluss zweier junger Leute entsprang zum großen Teil der Atmosphäre des Skeptizismus und Relativismus, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der Pariser Sorbonne herrschte. Studierende der Naturwissenschaften, zu denen Raissa und Jacques gehörten, hielt man an, das, was sichtbar und messbar war, zu untersuchen, doch sollte man aus diesen Experimenten keine allgemeinen Schlussfolgerungen ziehen.
Auch die Philosophie von Nietzsche und Spinoza, von der sich die 20-jährigen metaphysische Feststellungen erwarteten, brachte ihnen nur Leere und Verzweiflung. In diesem Zusammenhang verloren die Studenten vollkommen das Vertrauen in die kognitiven Möglichkeiten des Verstandes. Und da weder Raissa noch Jacques die Wahrheit auf dem Weg des Glaubens suchten (sie hielt sich für eine Atheistin, obwohl sie im Judaismus erzogen worden war; er stammte aus einer evangelischen Familie, interessierte sich aber nicht für Religion), zweifelten sie am Sinn des Lebens und beschlossen, Selbstmord zu begehen. Sie wollten jedoch dem Leben noch eine letzte Chance geben, bevor sie sich das Leben nahmen.
Glücklicherweise zeigte sich bald, dass der Sinn, den die beiden so verzweifelt suchten, sehr nah war – und das wortwörtlich, … auf der anderen Straßenseite! Gegenüber dem Gebäude der Sorbonne befand sich das Collège de France, an dem u.a. Henri Bergson Philosophie lehrte. Und obwohl Jacques Maritain ein paar Jahre später über einige Thesen Bergsons polemisierte, so ließ doch das in diesem Moment durch den französischen Philosophen propagierte Vertrauen in den Verstand und die Intuition Raissa und Jacques ihre Krise überwinden und im Endeffekt ihr junges Leben retten.
Die Studenten bekannten wie Bergson, dass der Mensch wirklich in der Lage ist, die Wirklichkeit zu erkennen und dass das Absolute – obwohl sie es damals noch nicht mit Gott gleichsetzten – erreichbar ist. Das war der erste Schritt des Paares zur Bekehrung, denn wie die hl. Edith Stein schrieb: „Gott ist die Wahrheit. Wer die Wahrheit sucht, sucht Gott, auch wenn er dies nicht wissen sollte.“
Zur Begegnung von Raissa und Jacques mit Gott kam es ein paar Jahre später. Sie lernten den katholischen Schriftsteller Leon Bloy kennen, dessen Bücher, vor allem aber sein Lebenszeugnis, einen ungeheuren Eindruck auf die Verliebten machten: „In dem Augenblick, in dem man über die Schwelle seines Hauses trat“, erinnerte sich Jacques an ihr erstes Treffen, „wusste oder fühlte man, dass es nur einen einzigen Grund gab, um traurig zu sein: Dass man nicht heilig ist“ (Wielkie przyjaźnie, s. 76, dt. Große Freundschaften). Schließlich, nach Wochen der Vorbereitung, wurden Raissa und Jacques am 11. Juni 1906 in einer katholischen Kirche getauft. Sie wurden von der Wahrheit umschlossen, nach der sie so sehr gesucht hatten.
„Ein großer Frieden umfasste uns und brachte Schätze des Glaubens mit sich. Es gab keine Fragen mehr, keinen Unfrieden, keine Versuchungen. Es gab nur die unendliche Antwort Gottes“, schrieb Raissa (zitiert nach: D. Brihat, Życie w świecie a kontemplacja, s. 22, dt. Das Leben in der Welt und die Kontemplation).
Auf den Wegen der Wahrheit und der Liebe
Parallel zu der intellektuellen und geistigen Suche von Raissa und Jacques vertiefte sich ihre gegenseitige Liebe. Die jungen Leute begegneten einander zum ersten Mal an der Sorbonne, wo sich Jacques bei einem Protest gegen die schlechte Behandlung von Studenten in Russland engagierte. Er fragte Raissa, ob sie nicht dem Protestkomitee beitreten wolle. Der junge Mann machte einen großen Eindruck auf Raissa, und weil beide die gleiche Studienrichtung hatten, lernten sie sich besser kennen und wurden in kurzer Zeit unzertrennlich. Am 26. Juli 1904 heirateten sie und bewiesen dadurch, dass Liebe stärker ist als unterschiedliche Herkunft. Raissa war nämlich die Tochter einfacher russischer Chassidim, die, als Raissa zehn Jahre alt war, aus Angst vor den wachsenden antisemitischen Stimmungen nach Frankreich emigrierten. Jacques hingegen entstammte einer bekannten Pariser Familie (sein Großvater war Politiker und sein Vater Rechtsanwalt) und besuchte das renommierte Gymnasium Heinrich IV.
Nach Beendigung des Studiums widmete sich Jacques der Philosophie. Es wurden ihm Titel verliehen (im Jahr 1920 wurde er Professor), er publizierte zahlreiche Artikel und Bücher, lehrte zunächst in Heidelberg, dann in Versailles bei Paris und die nächsten zwanzig Jahre über an der Universität von Princeton, sowie an anderen amerikanischen Lehranstalten. Seine Hinterlassenschaft (60 Bücher und einige Hundert Artikel) imponieren durch ihre Themenvielfalt. Die Veröffentlichungen Maritains behandeln die Philosophie, die Theologie, Ästhetik, die gesellschaftlich-politische Problematik und die Ethik. Berühmt wurde er vor allem als Verbreiter der Ideen des hl. Thomas von Aquin und als ein Vorläufer des II. Vatikanischen Konzils. Er kritisierte den Faschismus, setzte sich für Menschenrechte ein. In den Jahren 1945 bis 1948 war er der Botschafter Frankreichs im Vatikan.
Seine Ehefrau, die sich nicht nur um das Haus kümmerte, sondern auch Poetin und Essayistin war, unterstütze den berühmten Philosophen bei seiner Arbeit. Sie war auch Partnerin in Diskussionen. Die Eheleute verbrachten Stunden mit Unterhaltungen über die für sie interessanten Themen, sie inspirierten einander durch Bücher und durch Opfer und Gebet. Ihre Einheit in der Arbeit reichte bis zu solch einem Grad, dass Jacques sein erstes Buch mit der Angabe von zwei Verfassern veröffentlichen wollte. Er zögerte nicht zu schreiben: „Wenn es in meiner philosophischen Arbeit und in meinen Büchern etwas Gutes gibt, dann sollte man die Quelle dessen und das inspirierende Licht in den Gebeten Raissas suchen sowie in ihrem Opfer, das sie Gott dargebracht hat“ (R. Maritain, Dziennik, s. 9, dt. Tagebuch).
Glaube und Vernunft
Die Eheleute Maritain, die in ihrer Jugend so unermüdlich nach der Wahrheit gesucht hatten, waren sich bewusst, dass bei der Entdeckung der Wahrheit sowohl der Glaube als auch die Vernunft eine entscheidende Rolle spielen. So drückten sie die Jahrhunderte alte Lehre der Kirche aus, die der hl. Thomas von Aquin propagierte und die der hl. Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Fides et ratio in einem kurzen Satz zusammenfasste: „Glaube und Vernunft sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt.“
Die Eheleute, die treu dieser Überzeugung handelten, waren betrübt über die Haltung junger Katholiken, die die Notwendigkeit der Harmonie beider Dimensionen nicht einsehen wollten. Sie prophezeiten: „Aufgrund dessen drohte vielen unter denen, die katholisch dem Intellekt nach waren, zu Heiden dem Herzen nach zu werden; vielen von denen hingegen, die dem Herzen nach Christen waren, drohte, dass sie zu Häretikern dem Intellekt nach werden“ (Wielkie przyjaźnie, s. 247, dt. Große Freundschaften).
Raissa und Jacques, die die Gefahr sahen, die hinter der Haltung einer vollständigen Frömmigkeit ohne Vertiefung von Glaubenswahrheiten steckte, appellierten: „Lernt eure Religion kennen, o Katholiken, lernt eure Größe kennen!“ (Dziennik, s. 85, dt. Tagebuch). Gleichzeitig beruhigten sie all jene, die eine Schwächung der Rolle der Vernunft durch den Glauben befürchteten: „Der Verstand kann sein höchstes Potenzial nur dann entwickeln, wenn ihn der Frieden, den das Gebet verleiht, schützt und stärkt. Je mehr wir uns Gott durch die Liebe nähern, umso einfacher wird der Blick der Vernunft und umso klarer die Sichtweise“ (Życie w świecie a kontemplacja, s. 91, dt. Das Leben in der Welt und die Kontemplation).
Die Eheleute teilten ihre Ideen nicht nur durch Veröffentlichungen. Das Haus der Maritains in Meudon bei Paris, in dem Jacques und Raissa (mit der Unterstützung ihrer Schwester Vera) einen Thomistischen Studentenkreis leiteten, war immer offen für Intellektuelle, Künstler sowie Menschen, die auf der Suche nach der Wahrheit waren. Diese Treffen führten zu zahlreichen Bekehrungen und beeinflussten die französische katholische Denkweise des 20. Jahrhunderts. Meudon wurde unter anderem von folgenden Menschen aufgesucht: Marc Chagall – Maler, Nikolai Berdjajew – russischer Philosoph, Reginald Garrigou-Lagrange – Dominikaner und Promotionsförderer von Pfarrer Karol Wojtyla, Étienne Gilson – Historiker der Philosophie, Francois Mauriac – Schriftsteller. Interessant ist, dass auch Giovanni Montini – der spätere Papst Paul VI. – sich als geistigen Schüler von Jacques betrachtete. Er übersetzte Maritains Buch „Trois réformateurs“ (dt. Die drei Reformatoren) ins Italienische. Zum Abschluss des II. Vatikanischen Konzils legte er Die Botschaft an die Intellektuellen der Welt in Maritains Hände.
Die Kontemplation in der Welt
Menschen, die an dem Thomistischen Zirkel teilnahmen oder die Gastfreundschaft der Maritains genossen, verließen dieses Haus nicht nur intellektuell, sondern auch geistig gestärkt. Die Eheleute legten großen Wert auf das Gebetsleben – im Kolloquiumsprogramm gab es immer feste Zeiten für die hl. Messe und das Gemeinschaftsgebet. Im Haus der Maritains gab es nämlich eine Kapelle, für die Jacques und Raissa das Einverständnis des örtlichen Bischofs hatten. Der Tagesplan der Eheleute umfasste die morgendliche Eucharistiefeier, mehrere Gebetszeiten am Tag, den abendlichen Rosenkranz und die Komplet sowie die Lektüre dogmatischer Werke.
Die Maritains waren nicht nur Theoretiker, sondern Praktiker eines Lebensstils, den sie „Kontemplation in der Welt“ nannten. Das war ihre Bezeichnung für die Verbindung eines tätigen, aktiven Lebens, das typisch für weltliche Personen ist, mit der Erfahrung der Verwurzelung im tiefen Gebet.
Worauf beruhte dieser Lebensstil? Die Maritains erklärten es so: „Kontemplation ist schweigsames Gebet. Sie vollzieht sich ganz konzentriert im Mysterium des Herzens; ihr unmittelbares Ziel ist die Vereinigung mit Gott (…). In dieser Erfahrung agiert nicht so sehr die Seele selbst, sie wird viel mehr bewegt, Gott wirkt in ihr mittels der Gaben des Heiligen Geistes“ (J.R. Maritain, Kontemplacja w świecie, s. 78,80, dt. Die Kontemplation in der Welt).
Raissa und Jacques betonten, dass es nicht um die Anwendung bestimmter Techniken ginge, wie es bei nichtchristlichen Mystikern der Fall ist, auch ginge es nicht um die Konzentration auf die eigenen Probleme. „Der Geist der Vertiefung in sich selbst ist ein häufiger Fehler zeitgenössischer Menschen, die von Geburt an Gefallen an Analysen und psychologischen Besonderheiten finden. Wenn wir, anstatt auf Gott zu schauen, unser eigenes Ich betrachten, wenn wir unser eigenes Herz verengen, um den Zustand der eigenen Seele zu untersuchen, treten wir in eine Art von Unfrieden ein, anstatt Frieden zu finden, und riskieren unendliche Illusionen. Aber von uns wird gefordert, mutig zu sein und sich unendlich nach Gott zu sehnen, wie es die hl. Katharina von Siena lehrte“ (Życie w swiecie a kontemplacja, s. 53, dt. Das Leben in der Welt und die Kontemplation).
Die Maritains waren davon überzeugt, dass die Kontemplation nicht nur für bestimmte Menschen reserviert ist, sondern das Gebet jedes weltlichen Katholiken, auch des sehr beschäftigten, sein sollte. „Jene, die aktiv am Leben teilnehmen, sollten nicht auf die Kontemplation verzichten, allein unter dem Vorwand, dass sie kein kontemplatives Leben führen. Ganz im Gegenteil, sie haben einen Grund mehr, sich der Kontemplation zuzuwenden, sie haben ein dringenderes Bedürfnis nach Gebet. Das Wesen der Kontemplation bleibt ihnen nicht versagt; sie sollten um die Gnade des inneren Lebens bitten, das ausreichend intensiv ist, damit ihr Wirken aus einem Übermaß an Fülle ihrer Kontemplation fließt“ (Życie w świecie a kontemplacja, s. 75-76, dt. Das Leben in der Welt und die Kontemplation).
Die Berufung der Laien
Raissa und Jacques schrieben bereits viele Jahre vor dem II. Vatikanischen Konzil über die allgemeine Berufung der Gläubigen zur Heiligkeit und zum Apostolat. Die Eheleute ermutigten weltliche Personen dazu, ihr Leben vom christlichen Geist durchdringen zu lassen: „Es geht um die für alle gemeinsame Ausstrahlung des Evangeliums bei der täglichen Arbeit. Dann wird manchmal ein einfaches, herzliches Wort zu dieser Ausstrahlung oder ein Blick, eine Geste, eine spontane Reaktion auf ein Ereignis, eines dieser kaum wahrnehmbaren Zeichen (die um vieles wichtiger sind, als man allgemeinerweise annimmt), eines dieser Mikrozeichen der Seele, die das Unterbewusstsein registriert und der Nächste so unmissverständlich wahrnimmt. Oder es gibt noch ein stärkeres Zeugnis, ein Wort der Wahrheit, ein konkretes Engagement, Vergebung, ein Akt der Hingabe, ein Risiko, das man für das Wohl des Nächsten oder für die Gerechtigkeit auf sich genommen hat.
Der Christ kann und sollte jegliche Arbeit im Geist des Christentums erfüllen. Man kann auch christlich Geschichte, Literatur und sogar Mathematik lehren – nicht so sehr, indem man versucht, christliche Wahrheiten auszusprechen, sondern indem man für die Schüler betet und sie liebt, also in der Art, wie man sie behandelt und lehrt. Man kann auf christliche Weise den Beruf des Arztes ausüben, ein Geschäftszentrum führen, ein Tischler, ein Drechsler, der Besitzer eines Autosalons oder ein Arbeiter am Band sein, trotz des Automatismus während der ausgeübten Tätigkeiten. Überall sind Menschen, mit denen wir in persönliche Kontakte treten. Dort aber, wo wir in Beziehung zu anderen Menschen treten, geben wir Zeugnis von dem Evangelium durch unsere Handlungsweise“ (Kontemplacja w świecie, s. 72, dt. Die Kontemplation in der Welt).
Ein besonderer Ort der Heiligung für Laien ist die Familie. Die Maritains waren 56 Jahre lang verheiratet, bis zum Tod von Raissa im Jahr 1960. Nach dem Tod seiner Frau wohnte Jacques in der Gemeinschaft der Kleinen Brüder Jesu, nicht weit von Toulouse. Er lebte noch dreizehn Jahre lang. Die Botschaft von Raissa und Jacques ist im folgenden Satz zu finden: „Mit Vertrauen nehmen wir die Lebenssituation an, in die uns die Vorsehung gestellt hat. Denn Gott kann uns überall heiligen! (…) Lieben. Sich weihen. Nichts weiter braucht man, um heilig zu werden. (…) Die Sünde meiden, sich mit Demut gegen die Sünde wappnen, sich niemals entmutigen lassen. Gott lieben, lieben, lieben. Das ist die einzige Notwendigkeit“ (Dziennik, s. 99, dt. Tagebuch).
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