Maria hat mich gesucht und ekelte sich nicht vor meinem schmutzigen Leben. Sie ekelt sich vor nichts, denn die Liebe einer Mutter ist bedingungslos.
Ich war viele Jahre lang obdachlos. Ich hatte mein Haus und meine Familie verloren. Und all das wegen des Alkohols. Ich konnte mir selbst nicht sagen „Schluss jetzt!“… Es gab Tage, an denen ich mich von dem Laden mit Alkohol fernhielt, bis ich dann den bekannten Geruch wahrnahm oder Kumpels auftauchten, die ein „unablehnbares Angebot“ hatten. Alle meine Vorsätze, die Bitten meiner Frau, der Anblick der Kinder, die doch einen Vater brauchten, hörten langsam auf, für mich zu zählen. Ich verlor eine Arbeit nach der anderen, denn wer will schon einem Alkoholiker einen Arbeitsvertrag geben, der mal kommt und mal nicht (mit Betonung auf das Letztere). Wie durch einen Nebel erinnere ich mich daran, dass meine Frau zusätzliche Beschäftigungen annahm, damit es für Brot und Milch für die Kinder reichte. Ich verschwand für ein paar Tage von zu Hause, ohne ein Lebenszeichen zu hinterlassen, so als ob ich vergessen hätte, dass ich eine Familie habe. Was zählte, war nur, das Herz zu betäuben und eine unaussprechliche Leere auszufüllen. Wenn ich nach einem Alkoholrausch, der ein paar Tage dauerte, wieder unter der Adresse auftauchte, die sich in meinem Personalausweis befand, schrie und weinte meine Frau abwechselnd.
Ich wusste, dass ich weder Vater noch Ehemann war. Ich lebte in meiner eigenen Welt und mein Haus war für mich nur ein Nachtlager und ein Speisesaal. Es kam mir schon mal der Gedanke, dass ich meine Angehörigen verletzte, aber er verschwand schnell wieder, wenn in der Tür meine Kumpels mit der Flasche erschienen. Eines Tages sagte mir meine Frau, dass sie mich nicht mehr ins Haus ließe, wenn ich nicht einen Alkoholentzug machte. Ich dachte, sie wollte mich nur erschrecken, doch sie scherzte nicht. Als ich nach einer Woche – es könnten auch zwei Wochen gewesen sein, ich erinnere mich nicht mehr genau – nach Hause zurückkehrte, fand ich eine Tasche mit meinen Sachen vor der Tür auf der Fußmatte. Ich zog an der Klinke, hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür, trat dagegen. Durch einen Spalt in der Tür sah ich Licht. Ich wusste, dass sie zu Hause waren, ich hörte sogar das Weinen meiner jüngsten Tochter. Ich schrie die schlimmsten Flüche, nahm dann die Tasche, trat zum letzten Mal gegen die Tür und ging zu meinen Kumpels. Ich kämpfte nicht mehr und bat auch nicht um eine letzte Chance. Endlich hatte ich meinen Frieden.
Monate vergingen. Manchmal gab mir jemand eine Flasche oder etwas Kleingeld, doch meistens verjagte man mich und nannte mich einen Säufer. Ich erfuhr, dass meine Frau mit den Kindern zu meiner Schwiegermutter gezogen war. Ich hörte auf zu merken, wie sehr ich stank. Ich hatte mich seit Monaten nicht mehr gewaschen. Ich wohnte auf einer Müllhalde und schlief unter Decken, die ich aus einem Müllcontainer hervorgekramt hatte. Wenn man mich wie einen Hund davonjagte, ging ich woanders hin, ich lebte von Tag zu Tag. Ich sammelte Sperrmüll und verkaufte ihn. Wenn ich die Wahl hatte: Brot oder der billigste Alkohol, so überlegte ich nicht lange. Ich weiß nicht, wie viel ich wog, aber ich war ein menschliches Wrack. Ein mit Haut überzogenes Skelett. Am Morgen weckten mich ein übermächtiges Hungergefühl und die Ratten, die mir über die Beine liefen. Die Müllhalde war mein Schlafzimmer und meine Toilette. Mir war schon alles egal. Ich wurde immer schwächer. Ich dachte immer öfter an den Tod, aber mehr im Sinne einer Erlösung; ich wollte, dass das Ganze vorüber wäre. Manchmal kamen mir Gedanken an Gott, doch ich verwarf sie, denn wie sollte Er sich mit solchen Leuten wie mir abgeben?
Es kam der Tag, der alles veränderte, obwohl er genauso hoffnungslos wie alle anderen angefangen hatte. Ich ging raus, um etwas zu finden, was ich verkaufen könnte. Das Hungergefühl war bereits alltäglich geworden und mein ausgemergelter Körper hielt sich mit Mühe auf den Beinen. Meine durch den Brennspiritus zerstörte Leber setzte mir so sehr zu, dass ich manchmal vor Schmerzen das Bewusstsein verlor. Die Wunden auf meinen Beinen pulsierten und eiterten, und meine Haare führten ein Eigenleben wegen der dort lebenden Läuse. An diesem Tag fand ich nichts, was ich für ein paar Cent hätte verkaufen können. Eigentlich hatte ich keine Kraft zum Suchen. Ich hatte das Gefühl, ich würde sterben. Morgen, übermorgen oder vielleicht in einem Augenblick. Man würde meine Überreste finden, die Überreste eines Säufers, dem keiner eine Träne nachweinte. Ich hatte sogar meine Dokumente verloren. Nicht identifizierbar. Ich dachte an meine Familie: an meine Frau, an die Kinder, sogar an das weiche Bett mit der duftenden Bettwäsche, an die sonntägliche Suppe, an das Wienerschnitzel und das Sauerkraut …
In letzter Zeit dachte ich immer öfter an jene, die ich enttäuscht hatte. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten und kehrte zu meinem provisorischen Zuhause auf der Müllhalde zurück, und plötzlich sah ich dort etwas, was mich erstarren ließ. Auf der Erde, gleich beim Müllcontainer, lag in einer Urinpfütze …. ein Rosenkranz. Ich schaute ihn an und spürte, wie heiße Tränen über meine frierenden Wangen liefen. Ich spürte in meinem Herzen eine unglaubliche Wärme, wie ein Feuer, an dem man sich wärmen und wo man die Hände gegen die tanzenden Flammen ausstrecken konnte. Ich fühlte mich von innen erwärmt. Ich flüsterte: „Maria …“. Ich bückte mich schnell, um die so geringgeschätzten, gedemütigten Rosenkranzperlen aufzuheben. Ich säuberte den Rosenkranz an meinem schmutzigen Pullover und fühlte eine unglaubliche Liebe, die man mit Worten nicht beschreiben kann. „Maria, was machst Du hier auf dieser Müllhalde, in diesem Elend, in diesem Dreck? Was machst Du hier?“ …
In meinem Kopf tauchten Maiandachten und Rosenkranzgebete auf, die mich meine Großmutter gelehrt hatte. Ich hörte in meinem Herzen: „Ich habe dich gesucht“. Dies war eine außergewöhnlich warme, zärtliche, beruhigende Stimme, die aus meinem Innern zu kommen schien. Ich hörte sie nicht so, wie man einen Laut wahrnimmt – das war eine Botschaft, die aus dem Herzen zu kommen schien, sanft und zugleich unglaublich einnehmend. Obwohl ich wahrscheinlich nicht mehr wie ein Mensch aussah, fühlte ich mich wie die wichtigste Person auf der Welt. Ich machte die Erfahrung, dass Maria dort mit mir war, dass sie sich nicht vor mir ekelte, dass sie mich liebte, dass sie so real war wie nichts anderes auf der Welt … Ich küsste das Kreuz und weinte laut wie ein Kind. Ich bin ein Kind. Ich bin Ihr Kind. Obwohl physisch niemand bei mir war, fühlte ich eine Anwesenheit. Niemand drückte mich an sich, doch ich fühlte große Zärtlichkeit, wie ich sie nie zuvor erfahren hatte. Ich setzte mich hin, stützte meinen Rücken gegen eine Mauer und deckte mich mit einer alten Decke zu. Als ich den Rosenkranz in meiner Hand drückte, fühlte ich, wie mich die Muttergottes an der Hand hielt. Ich weiß nicht mehr, wann ich einschlief.
Ich erwachte als ein anderer Mensch. Das Erste, was mir in den Sinn kam, war die Tatsache, dass meine Leber nicht mehr schmerzte. Nichts tat mir weh. Ich schaute auf meine Hand: Er war da. Es war kein Traum gewesen. Die Holzperlen und das Kreuz drückten sich auf meiner Haut ab. Ich hielt sie so fest, weil ich nicht das Gefühl verlieren wollte, dass ich geliebt und geborgen war. Ich konnte klar denken, mein Kopf pulsierte nicht. Ich stand auf, und es war so, als ob der Verfall der vergangenen Jahre im Schlaf regeneriert worden wäre. Ich weiß selbst nicht, wie viele Jahre. Ich ging durch einen Park, und mir wurde bewusst, dass ich mich erinnerte … Ich erinnerte mich! „Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade …“. Auf einer grünen Bank, von der die Farbe abblätterte, sah ich eine halbvolle Flasche Bier. Ich hatte schon den gewohnheitsmäßigen Reflex des langjährigen Alkoholikers, zu denken, ich hätte gerade im Lotto gewonnen, dabei fühlte ich gleichzeitig Ekel, als ich das dunkelgrüne Glas betrachtete. Ich dachte, ich würde mich übergeben. Jeder Gedanke an Alkohol wurde für mich gleichbedeutend mit etwas sehr Abscheulichem. Damals war mir noch nicht klar, dass ich von einer jahrelangen Sucht befreit worden war – ganz einfach so.
Nach einigen Tagen fand ich die Adresse meiner Schwiegermutter heraus. Ich setzte mich auf eine Bank vor dem Haus und hatte nicht den Mut, meinen Blick auf das Treppenhaus zu richten. Ich saß da so schmutzig und stinkend und dabei innerlich gar nicht mehr zu dem äußeren Erscheinungsbild passend. Plötzlich kam meine Frau mit vollen Einkaufstaschen um die Ecke. Sie streifte mich mit einem Blick, wie man Obdachlose und Säufer eben kurz mustert. Plötzlich blieb sie stehen, wurde blass und ließ die Einkaufstaschen aus den Händen gleiten. Wir sprachen miteinander, weinten und fingen ganz neu an. Sie hat mich trotz allem wieder aufgenommen. Seit dieser Zeit bemühe ich mich, all das aufzuholen, was ich als Vater und Ehemann versäumt habe, obwohl meine Kinder inzwischen schon eigene Kinder haben. Maria hat mich gesucht und sich nicht vor meinem schmutzigen Leben geekelt. Sie ekelt sich vor nichts, denn eine Mutter liebt bedingungslos.
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