Mit Liebe haben sie den Hass besiegt

Jesus hat durch sein Sterben am Kreuz gezeigt, wie sehr er jeden Menschen liebt. Er ist es, der uns befähigt, unseren Nächsten zu lieben, und wenn es sein muss, auch auf heroische Weise. Davon zeugen die außergewöhnlichen Beispiele von Menschen, die ihr Leben gaben, um andere zu retten.

Obwohl das einzigartige, heroische Verhalten des heiligen Maximilian Kolbe zu einem Symbol geworden ist, ist es auch wert, andere, vielleicht weniger bekannte Geschichten zu erzählen, in denen Menschen ihr Leben für ihre Nächsten hingegeben haben. In dieser Hinsicht stellte das 20. Jahrhundert, das nicht umsonst das Jahrhundert der Märtyrer genannt wird, eine besondere Periode in der Geschichte der Menschheit dar. Forscher berichten, dass in diesem Jahrhundert insgesamt mehr Märtyrer aus Liebe zu Gott und zum Nächsten sowie zur Verteidigung des Glaubens starben als in allen anderen  neunzehn Jahrhunderten zusammen.

Er ging für seinen Bruder in den Tod

Mitten in der religiösen Verfolgung während des Spanischen Bürgerkriegs kam es zu einem außergewöhnlichen Ereignis: Alberto Meléndez war das vierte von zehn Kindern von Pablo Meléndez Gonzal, einem bekannten Anwalt aus Valencia, einem guten Katholiken und Mitglied der Katholischen Aktion. Als der Krieg ausbrach, war Alberto 27 Jahre alt. Er war Junggeselle und hatte gerade sein Jurastudium abgeschlossen. Im September des Jahres 1936 klopften Milizen der „roten“ Volksfront an die Tür seines Elternhauses in Valencia. Sie kamen, um Pablo, den Vater der Familie und seinen ältesten Sohn gleichen Namens zu verhaften. Zu diesem Zeitpunkt war Pablo junior bereits verheiratet und hatte zwei Kinder. Alberto, der ihn retten wollte, gab sich als sein Bruder aus. So wurden er und sein Vater verhaftet und beide ins Gefängnis von Valencia gebracht. Ihre Freunde saßen ebenfalls in der Zelle. Um den Tausch nicht zu verraten, bat Alberto sie, ihn mit dem Namen seines älteren Bruders anzusprechen.

Pablo senior und Alberto wurden am Morgen des 24. September 1936 erschossen. Ihre Leichen wurden einfach auf der Straße nach Castellar liegengelassen. Vater und Sohn wurden von einer der Schwestern Albertos identifiziert und auf dem Allgemeinen Friedhof von Valencia beigesetzt.

Der junge Alberto gehörte zu den 91 spanischen Märtyrern (66 Diözesanpriester, 8 Ordensleute und 17 Laien), die in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts aus Hass gegen den Glauben ermordet wurden. Die diözesane Phase des Seligsprechungsprozesses wurde kürzlich abgeschlossen. Insgesamt gedenken die Spanier schon 2069 Heiliger und selig gesprochener Märtyrer aus dieser tragischsten Zeit der Geschichte des Landes.

Sie liebte ihre Schwiegertochter wie ihre eigene Tochter

Marianna Biernacka, geborene Czokało, wurde 1888 in Lipsko an dem Fluss Biebrza geboren. Im Alter von 20 Jahren heiratete sie Ludwik Biernacki. Das Paar hatte sechs Kinder. Leider starben vier von ihnen kurz nach der Geburt. Das war sicherlich ein schwerer Schlag für Marianna und Ludwik. Nur ihre Tochter Leokadia und ihr Sohn Stanisław erreichten das Erwachsenenalter. Die Familie Biernacki bestritt ihren Lebensunterhalt durch die Bewirtschaftung ihres 20 Hektar großen Bauernhofes. Nach dem Tod ihres Mannes lebte Marianna zusammen mit ihrem Sohn, und als dieser heiratete, nahm sie ihre Schwiegertochter Anna bei sich auf. Sie teilte das tägliche Leben mit dem jungen Paar und war besorgt, freundlich und voll mütterlicher Liebe zu ihnen und ihren Kindern. Marianna behandelte ihre Schwiegertochter wie ihre eigene Tochter, teilte die Mühen des Landlebens mit ihr, sang mit ihr gemeinsam das Stundengebet und freute sich über die Geburt ihres ersten Kindes Genia.

Anfang Juli 1943 kam es zu Massenverhaftungen der Einwohner von Lipsk und deren Umgebung als Vergeltungsmaßnahme für die Ermordung eines deutschen Polizisten durch Partisanen. Auf der Liste der zu verhaftenden Personen standen auch der Sohn von Marianna und seine Frau, die zu diesem Zeitpunkt schwanger war. Am Morgen des 1. Juli betrat ein bewaffneter deutscher Soldat das Haus der Biernackis und befahl Anna und Stanisław, die Wohnung zu verlassen. Als Marianna dies sah, fiel sie dem SS-Mann ohne zu zögern zu Füßen und flehte ihn an, sie anstelle ihrer Schwiegertochter in den Tod gehen zu lassen. Der Deutsche ging auf Mariannas Vorschlag ein. Bald darauf wurde die Frau zusammen mit ihrem Sohn und den anderen Verhafteten ins Gefängnis von Grodno (im heutigen Weißrussland) gebracht. Vor ihrem Tod bat Biernacka darum, ihr einen Rosenkranz zu bringen. Am 13. Juli 1943 wurde sie, zusammen mit 49 anderen Einwohnern von Lipsk, in einem Fort, in der Nähe des Dorfes Naumowicze bei Grodno, von den Deutschen erschossen.

Zum Zeitpunkt ihres Todes war Marianna 55 Jahre alt. Niemand hat sie gezwungen, eine solch heroische Entscheidung zu treffen. Sie hätte passiv bleiben können. Sie hätte auch ihr Leben geben können, um ihren Sohn zu retten. Marianna opferte sich jedoch für ihre Schwiegertochter. Sie rettete sie und ihr ungeborenes Kind. Sie tat dies aus heroischer Liebe zu einem anderen Menschen. Man kann mit voller Überzeugung von ihrer großen Opferbereitschaft und ihrem Martyrertod sprechen. Dabei zeigte sie großen Respekt vor dem ungeborenen Leben, aber auch die Sorge, dass ihrer, zu diesem Zeitpunkt zweijährigen Enkelin, die Mutter erhalten bleiben möge. Mariannas Opfer war nicht umsonst. Anna brachte ein Kind zur Welt, überlebte den Krieg, erlebte die Geburt von Enkeln und Urenkeln und wurde 98 Jahre alt!

Die Einwohner von Lipsk und Umgebung würdigen Mariannas Vorbild sowohl in der Familie als auch im Gemeindeleben. Sie zeichnete sich durch ihre Bescheidenheit, Einfachheit und Sanftmut aus. Ihre Heldentat wird besonders von den Einheimischen hervorgehoben, die Biernackas Opfer mit dem Martyrium des heiligen Maximilian Kolbe vergleichen. Die Märtyrerin aus Lipsk wird als Schutzpatronin der Schwiegermütter, der Schwiegertöchter und des ungeborenen Lebens verehrt.

Am 13. Juni 1999 erhob der heilige Johannes Paul II. Marianna Biernacka zur Ehre der Altäre. Marianna gehört damit zu den 108 seliggesprochenen polnischen Märtyrern, die während des Zweiten Weltkriegs ermordet wurden.

„[…]wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15,13)

Die gerade beschriebenen Beispiele von Märtyrern betrafen Menschen, die ihr Leben für ihre Verwandten opferten. Dies mindert weder das Ausmaß ihres Martyriums noch die Größe ihres Opfers, aber umso mehr beeindruckt das Zeugnis von der polnischen Familie Ulma, die während des Zweiten Weltkriegs entschieden und völlig selbstlos beschloss, Mitglieder mehrerer jüdischer Familien vor der Vernichtung zu retten. Noch erstaunlicher ist diese Haltung, da Polen damals das einzige von den Deutschen besetzte Land war, in dem selbst die geringste Hilfeleistung für Juden mit schweren Strafen belegt war. Das Verstecken von ihnen war mit der Todesstrafe für die gesamte polnische Familie belegt. Die Familie Ulma war sich dieser Gefahr völlig bewusst….

Józef Ulma wurde 1900 in Markowa in einer armen ländlichen Familie geboren. Er schloss die Landwirtschaftsschule mit Auszeichnung ab. Aber er war nicht nur ein hervorragender Schüler, sondern auch eine besondere Persönlichkeit unter den Dorfbewohnern. Er hatte viele Interessen und nutzte technische Neuerungen in sein Leben. Józef war ein sozial aktiver Mensch (u.a. war er Mitglied des Katholischen Jugendverbandes). Er förderte die Gartenarbeit und den Gemüseanbau. Er beschäftigte sich auch mit Bienenzucht und Buchbinderei. Nebenbei konstruierte er selbst einen Fotoapparat, der es ihm ermöglichte, seiner größten Leidenschaft nachzugehen. Im Alter von 35 Jahren heiratete Józef Wiktoria Niemczak, die 12 Jahre jünger war als er. Das Paar hatte sechs Kinder. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden der Glaube und die Überzeugungen der Familie Ulma auf die Probe gestellt, aus der sie jedoch siegreich hervorgingen.

Das Leben der Familie Ulma war stark beeinflusst vom täglichen Gebet, der Lektüre der Heiligen Schrift und der Teilnahme an Gottesdiensten nach dem liturgischen Kalender und dem traditionellen Leben auf dem polnischen Land. Die Familie Ulma begann das neue Jahr mit dem Gebet, nahm an den Fastengottesdiensten teil und erlebte andächtig die Karwoche. Sie nahmen an den Maiandachten und an den Prozessionen während der Fronleichnamsoktav teil. Sie dankten für die Ernte und trugen Erntekränze, um weiteren Segen zu erbitten. Sie weihten das Getreide für die neue Aussaat, besuchten Rosenkranzandachten und gingen regelmäßig zur Beichte. Sie begannen jeden Tag mit einem Gebet und dem Singen des Stundengebets. „All dies bildete die Spiritualität der Ehegatten und brachte Entscheidungen mit sich, die den tiefen Glauben von Józef und Wiktoria bezeugten. Ihr Wertesystem, ihr inneres Leben, […] ihr tägliches Verhalten waren eng mit ihrem katholischen Glauben verbunden. Beide wuchsen in gläubigen Familien auf; als sie älter wurden, wurden sie selbst in das religiöse Leben der Pfarrei und der Markow-Gemeinde einbezogen, und später, als Eheleute, praktizierten sie das tägliche Gebet und besuchten regelmäßig die Gottesdienste“ (E. Nowak, Rodzina Ulmów w literaturze, dt. Die Familie Ulma in der Literatur).

Obwohl Józef eine große Familie und ein bescheidenes Einkommen hatte, beschlossen er und seine Frau, sich für die verfolgten Juden einzusetzen. Vermutlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1942 nahm er acht jüdische Flüchtlinge aus den Familien Goldman (genannt die „Schalls“), Grünfeld und Didner auf. Außerdem half er einer anderen jüdischen Familie, im nahe gelegenen Wald einen Unterschlupf zu graben, und versorgte dessen Bewohner mit Lebensmitteln und anderen Produkten. Nach einiger Zeit wurde der Unterschlupf im Wald von den Deutschen entdeckt und die dort versteckten Juden ermordet. Die Tatsache, dass die Famile Ulma den Flüchtigen geholfen hatte, wurde damals nicht enthüllt. Die anderen acht Juden hingegen versteckten sich bis zum Frühjahr 1944 auf dem Hof der Familie Ulma. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Ulmas von einem Ukrainer denunziert, der zuvor das Eigentum dieser Juden beschlagnahmt hatte und die rechtmäßigen Besitzer nun loswerden wollte.

Am 24. März 1944, kurz vor Sonnenaufgang, drangen deutsche Polizisten in das Haus der Ulmas ein und richteten ein Massaker an. Zuerst ermordeten sie die Juden in den Verstecken, dann führten sie Józef Ulma und die schwangere Wiktoria vor das Haus und erschossen sie. Die sechs Kinder, die dieser Hinrichtung beiwohnen mussten, wurden kurz darauf ebenfalls ermordet. Die Älteste, Stasia, war acht Jahre alt und die Jüngste, Marysia, war eineinhalb Jahre alt. Es ist wahrscheinlich, dass bei Wiktoria zum Zeitpunkt der Hinrichtung die Wehen einsetzten, denn ein Zeuge, der der Exhumierung beiwohnte, sagte später aus, dass er nach dem Ausgraben der Leiche den Kopf und die Brust des Neugeborenen bemerkte, die aus den Geschlechtsorganen herausragten.

Nach dem Massaker plünderten die deutschen Polizisten den Hof der Ulmas. Zeugen berichteten, dass die Beute so umfangreich war, dass die Deutschen bis zu sechs Karren brauchten, um alle geplünderten Güter unterzubringen. Man könnte  also denken, sie hätten sich an dem menschlich Wertvollsten bereichert und das ignoriert, was sie für wert- und nutzlos hielten. So ließen sie ein Exemplar des Neuen Testaments an Ort und Stelle zurück, das den Ulmas gehört hatte… Dieses Buch ist zum stummen Zeuge des geistlichen Lebens und des Martyriums der Familie geworden. Das Exemplar trägt Gebrauchsspuren, ist mit persönlichen Notizen versehen, und was am meisten verblüfft, ist das mit rotem Stift unterstrichene Gleichnis vom barmherzigen Samariter, an dessen Rand jemand in großen Buchstaben das Wort „JA!“ hinzugefügt hat. Nicht umsonst werden die Ulmas heute als die „Samariter von Markowa“ bezeichnet. Es besteht kein Zweifel, dass die Ulmas bei ihrer Entscheidung, den Juden zu helfen, von rein christlichen Motiven und dem Evangelium entsprechender Nächstenliebe geleitet wurden. Am 17. Dezember 2022 billigte Papst Franziskus das Dekret über das Martyrium der Familie Ulma, ein Dokument, das den Weg für ihre baldige Seligsprechung ebnet (Die Seligsprechung erfolgte am 10.09.2023).

Während des Krieges gab es noch weitere Familien wie die Ulmas. Die bisherigen Schätzungen zur Anzahl der Polen, die damals Juden Unterschlupf gewährten, schwanken zwischen 160.000 und 360.000 (von denen etwa 1500 ermordet wurden). Es wird geschätzt, dass bis zu einer Million Polen an einer indirekten Hilfe für die verfolgten Juden beteiligt gewesen sein könnten. Bezeichnend ist auch, dass unter den Trägern der Medaille „Gerechte unter den Nationen“ (eine Auszeichnung für Personen, die Juden gerettet haben) die Polen die größte Gruppe stellen (über 25 % der Ausgezeichneten im Vergleich zu Bürgern aus anderen 40 Ländern).

„Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ (Lk 10,25)

In seiner Abschiedsrede sagte Jesus: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15,13). Die erwähnten Märtyrer erreichten genau diese höchste Stufe der christlichen Liebe. Gott hat für jeden Menschen einen anderen Plan vorbereitet. Er verlangt nicht von jedem, einen Weg des Martyriums zu gehen, der den großen und heldenhaften Taten jener Seligen und Heiligen entspricht, die ihr Leben aufopferten, um andere zu retten. Aber ihr Beispiel der Liebe zu Gott und dem Nächsten soll unseren Glauben stärken und uns als Leitfaden dienen, nach welchen Werten es sich im Leben zu richten lohnt. Es ist zugleich ein Beweis für die Macht der Gnade Gottes, die den Menschen zu solchen Heldentaten befähigt. Denn aus sich selbst heraus wäre der Mensch zu einem solchen höchsten Akt der Liebe nicht in der Lage („[…] denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen“ – Joh 15,5).

Gott respektiert unseren freien Willen und möchte, dass wir in Freiheit zur Fülle der Liebe heranreifen. Er zeigt uns den Weg zur Heiligkeit, der darin besteht, in den kleinen Dingen treu zu sein: „Wer in den kleinsten Dingen zuverlässig ist, der ist es auch in den großen“ (Lk 16,10). Aus Eifer in kleinen Dingen erwachsen große Taten. Gott möchte, dass wir Ihm treu sind, indem wir unsere Berufung mit Liebe erfüllen, tägliche Pflichten übernehmen, unsere Abneigung oder Feindschaft gegenüber anderen Menschen überwinden, helfende Hände ausstrecken und empfänglich für die Bedürfnisse unserer Mitmenschen sind. Nach dem Tod werden wir nach der Liebe gerichtet- der reinen und uneigennützigen Liebe. Gott gebietet uns, einander zu lieben, nicht nur unsere Freunde, sondern auch unsere Feinde, den Frieden zu fördern und zerstrittene Parteien zu versöhnen, barmherzig zu sein und – was besonders wichtig ist – allen immer und überall zu vergeben: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt“ (Joh 13,34-35);

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ (Mt 19,19); „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,44); „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden. (…) Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden“ (Mt 5,7-9); „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40).